Die Hexe in mir (und Dir) 

Die Hexe in mir (und Dir) 

Von Ellie Haase (28.Mai.2025)

„Du Hexe!“ 

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich mich vor Beginn meiner Recherche zu diesem  Artikel von dieser Bemerkung persönlich angegriffen gefühlt hätte. Dass ich die  Aussage nach meiner Beschäftigung mit dem Thema eher als Kompliment  wahrnehme, ist umso erstaunlicher. 

Illustration: Margo Sibel Koneberg

Wenn wir uns eine Hexe vorstellen, denken wir mit großer Wahrscheinlichkeit als  allererstes an die spitznasige Figur mit Katze und schwarzem Hut, die wir aus den  Märchenbüchern unserer Kindheit kennen. In den meisten Fällen ist sie eine  besenreitende, ältere, oft hässliche Frau, die der positiv besetzten Hauptfigur  antagonistisch gegenübergestellt wird. Die erste neutrale Darstellung einer Hexe  erfolgte überhaupt erst im Jahr 1939 im Rahmen der Kinoadaption des „Zauberers  von Oz“. Bis heute aber hält sich das Bild der gemeinen Hexe in verschiedenen  Disney-Märchen sowie anderen historischen Adaptionen, unabhängig von einem  bestimmten Genre.

Oft wird vergessen, dass der Mythos „Hexe“ reale, historische Wurzeln besitzt, die bis  ins Spätmittelalter zurückreichen. Damals waren Hexen, zumeist Frauen, Teil einer  systematischen Verfolgung von Menschen, die sich gegen den Willen der Kirche  stellten und die in irgendeiner Weise die gesellschaftlichen Vorstellungen vom  „richtigen“ Frausein sprengten. Das war häufig dann der Fall, wenn sie  beispielsweise alleinstehend, kinderlos oder nicht besonders attraktiv waren – oder  wenn ihnen durch einen Mitmenschen eine Verbindung zu Satan unterstellt wurde. Dies geschah nicht selten in Verbindung mit altem Volksglauben, bei dem unerklärbaren Naturphänomenen häufig „dunkle Mächte“ zugeschrieben wurden. Die „Zauberei“ war in dieser Vorstellung ein Mittel, mit diesen Mächten in Verbindung zu treten. Gegen eine solche  Anschuldigung gab es aufgrund des stark in der allgemeinen Gesellschaft verwurzelten Glaubens oft kein Ankommen – mit verheerenden Folgen für viele Frauen. 

Während des 16. und 17. Jahrhundert wurden schätzungsweise 60.000 “Hexen” hingerichtet, meist auf dem Scheiterhaufen und unter unsäglichen Qualen. Die letzte überlieferte Hinrichtung einer Hexe in Europa fand 1793 statt, vor gerade  einmal etwas mehr als 200 Jahren. Wie Julia Korbik in ihrem Roman „Schwestern – Die Macht des weiblichen Kollektivs“ passend anmerkt, war „[d]ie Hexenverfolgung […] ein Krieg gegen all jene, die einen weiblichen Körper besaßen.“ 

Die rechtliche Grundlage, auf der die systematischen Verfolgungen beruhten,  stammte von Papst Johannes XXII. Dieser hatte 1326 verfügt, dass neben der  Ketzerei von nun an auch die Hexerei gerichtlich geahndet werden sollte. Bereits im  darauffolgenden Jahrhundert begann die Hexenverfolgung durch eine Urkunde des damaligen Papstes, den sogenannten „Hexenbulle“. Dieser berief sich auf eine  Aussage im alten Testament: „Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen.“  

Obwohl diese schrecklichen Verbrechen in den vergangenen Jahren bereits zu  großen Teilen von der katholischen und auch von der protestantischen Kirche  aufgearbeitet wurden, hat sich das negativ behaftete Bild der Hexen in die Köpfe  unserer Gesellschaft eingebrannt.

Es ist schön zu sehen, dass es heutzutage weitaus mehr positive Beispiele für  moderne Hexen gibt als noch vor 50 Jahren. Da gibt es die Figuren der Hermine Granger oder Bibi Blocksberg, die aus unserer popkulturellen Landschaft nicht mehr wegzudenken sind und viele Mädchen (und Jungen) inspiriert haben, sie selbst zu sein. Immer mehr Frauen beanspruchen den Begriff Hexe für sich und machen es  sich zur Aufgabe, ihn von den Vorurteilen seiner Vergangenheit loszukoppeln. In  ihrem Roman „Hexen – Die unbesiegbare Macht der Frauen“ stellt Mona Chollet sehr  treffend fest, was für ein feministisches Potential die Persona der Hexe in sich trägt:  „Die Hexe verkörpert die von jeglicher Dominanz, von jeglichen Begrenzungen  befreite Frau; sie ist ein anzustrebendes Ideal, sie weist den Weg.“ Sie geht sogar  noch einen Schritt weiter und sieht die Hexenverfolgung der frühen Neuzeit und die  damit einhergehende Enteignung und Ausbeutung des weiblichen Körpers als  Katalysator für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus: „Die  Hexenverfolgung diente auch dem Ausbau einer neuen patriarchalen Ordnung, unter  der die Körper der Frauen, ihre Arbeit und ihre reproduktiven Vermögen unter  staatliche Kontrolle gestellt und in ökonomische Ressourcen verwandelt wurde.“

Eine Hexe zu sein bedeutet, eine kompromisslose, feminine Energie auszustrahlen,  die über die Grenzen der Geschlechter und festgelegten Strukturen unserer  Gesellschaft hinausgeht. Das war damals genau wie heute der Fall. Vielleicht sollten wir ab und zu in uns gehen und versuchen, unsere eigene innere Hexe zu kanalisieren. So können wir Kraft sammeln, um die Ungerechtigkeit und das Leid, das anderen Hexen vor uns widerfahren ist, laut und voller Demut für ihr Opfer in die Welt  hinauszutragen. Auf dass Du und ich eines Tages als stolze, moderne Hexen aus der Asche der Scheiterhaufen steigen mögen. 

The witch in me (and you)

By Ellie Haase (28.Mai.2025)

„You Witch!“

It’s Not Unlikely I Would Have Felt Personally Attacked by That Remark Before Starting My Research for This Article. The fact that I now perceive it more as a compliment is all the more surprising.

Illustration: Margo Sibel Koneberg

When we picture a witch, chances are high that we first think of the pointy-nosed figure with a cat and a black hat—the one from the fairy tale books of our childhood. In most cases, she is a broomstick-riding, elderly, often ugly woman who serves as the antagonist to the story’s positively framed main character. The first neutral portrayal of a witch didn’t come until 1939, in the film adaptation of The Wizard of Oz. Yet, the image of the evil witch continues to persist today—in various Disney stories and other historical adaptations—regardless of genre.

What is often forgotten is that the myth of the “witch” has real historical roots that reach back to the late Middle Ages. At that time, witches—mostly women—were part of a systematic persecution of those who defied the will of the Church or, in some way, challenged societal norms about what it meant to be a “proper” woman. This was often the case if they were, for example, unmarried, childless, not particularly attractive—or if someone accused them of having a connection to Satan. These accusations were often tied to ancient folklore that explained unexplainable natural phenomena through “dark forces.” In that belief system, “magic” was a tool to commune with those forces. Once accused, there was often no defense, as belief in witchcraft was deeply ingrained in society—with devastating consequences for many women.

During the 16th and 17th centuries, it’s estimated that around 60,000 “witches” were executed—mostly burned at the stake and under unimaginable suffering. The last recorded execution of a witch in Europe took place in 1793—just a little more than 200 years ago. As Julia Korbik aptly notes in her book Schwestern – Die Macht des weiblichen Kollektivs (Sisters – The Power of the Female Collective): “The witch hunts […] were a war against all those who possessed a female body.”

The legal foundation for this systematic persecution came from Pope John XXII, who in 1326 decreed that, in addition to heresy, witchcraft was now to be punished in court. Just a century later, the witch hunts began with a papal bull—an official document—known as the “Witch Bull.” This document cited a passage from the Old Testament: “Thou shalt not suffer a witch to live.”

Although these horrific crimes have been addressed in recent years—by both the Catholic and Protestant churches—the negatively charged image of the witch remains firmly etched in our collective consciousness. It’s heartening to see that today, there are far more positive portrayals of modern witches than there were just 50 years ago. Characters like Hermione Granger or Bibi Blocksberg are now an inseparable part of our pop culture and have inspired countless girls (and boys) to be themselves. More and more women are reclaiming the term witch for themselves, taking it upon themselves to break it free from the prejudices of its past.

In her book Witches – The Indomitable Power of Women, Mona Chollet insightfully writes about the feminist potential of the witch figure:
“The witch embodies the woman who is free from all domination, from all constraints; she is an ideal to strive for, she shows the way.”
She goes even further, interpreting the witch hunts of the early modern period—and the accompanying dispossession and exploitation of the female body—as a catalyst for the shift from feudalism to capitalism:
“The witch hunts also served the establishment of a new patriarchal order, under which women’s bodies, their labor, and their reproductive capacities were placed under state control and turned into economic resources.”

To be a witch means to radiate an uncompromising, feminine energy that transcends gender boundaries and the fixed structures of our society. That was true then, and it remains true today. Maybe we should all take a moment from time to time to look inward—and try to channel our own inner witch. In doing so, we can gather strength to speak out, loudly and humbly, for the injustice and suffering endured by the witches who came before us. May you and I one day rise—as proud, modern witches—from the ashes of the stakes.

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