Quart(i)er Life Crisis
Poetry Slam von Leon Essig (15.08.2023)
Seit bald einem Jahr sind wir nun schon zusammen, doch als ich dich heut’ nüchtern sah, verschwanden alle Flammen.
Früher mochte ich deine Mängel, früher hats mich nicht gestört – doch eins sag’ ich dir, mein Engel, ich hab dir viel zu lang gehört.
Du musst dich ändern, sonst zieh ich wieder aus,denn zwischen unsern’ Wänden wächst, was mir am meisten graust.
Ich kann es doch verstehen – Hygiene ist halt nicht dein Ding, aber Schatz, ich werd bald geh’n, denn Kritik scheint nichts zu bringen.
Ich wünschte, jemand anderes säubert deine Rohre.
Ich brauche Einmalhandschuhe, will ich in dir bohren.
Ich genieße deine Wärme, doch andere tun’s auch,
ich kann nicht mit ihnen leben, mein Vertrauen wurd’ missbraucht.
Für 400 im Monat erwarte ich schon mehr,
das war die letzte Warnung,
diese Bude steht bald leer.
Ihr Kleinkapitalisten sagt, die Mieter seien nichts, dauernd setze ich euch Fristen, bald geh ich vor Gericht.
Das Wohlfühl-Wohnheim?
So bewerbt ihr euch?!
Liebe Grüße,
Leon Essig.
Ich lese die Mail nochmal durch und schicke sie dann an meinen Vermieter.
Als ich mich für dieses Studium beworben hatte, habe ich mich spät nach Wohnungen umgeschaut.
Notfalls reicht mir die Bank einer Bushaltestelle,
heute denke ich mir, das wäre besser gewesen.
Wenn man beim Quartier die Rezensionen durchliest, könnte man meinen, sie wären aus Zeitungsschnipseln ausgeschnitten und zusammengeklebt worden.
Jeder dieser Drohbriefe warnt vor einer Hausfassade, bei der man sich selbst bei einer Burschenschaft willkommener fühlt.
Für 12 Personen haben wir zwei Küchen, zwei Badezimmer und eine funktionierende Toilette.
Großes Plus sind dabei zwei Badewannen, die sich an regnerischen Tagen von selbst auffüllen können.
Man könnte es “Fango-Bad” nennen, zumindest haben diese zwei Flüssigkeiten Konsistenz und Farbe gemeinsam.
Leider reicht der Geruch schon aus, um die Ameisen aus den Kühlschränken zu vertreiben.
Ich würde euch gerne meinen Alltag im Quartier schildern:
Sieben Uhr morgens, die erste Person benutzt den Ofen. Ich habe das Zimmer gegenüber der Küche.
Der quietschende Schrei des Ofens ist effektiver als jeder Wecker.
Mir egal. Drehe mich um, lege mich nochmal hin.
Das Waschbecken versucht sich wieder am Beatboxen und trifft dabei erstaunlich gut den Takt des immer noch kreischenden Ofens.
Ich nehme das Kissen unter meinem Kopf weg und ziehe es über meine Ohren. Nicht bequem, aber immerhin ruhiger.
Acht Uhr. Eine Auto-Alarmanlage fängt an, mit einem Feueralarm zu harmonieren. Ich halte das Konzert nicht mehr aus und gebe auf.
Aus dem Bett gequält, hebe ich die Matratze an und schiebe die wenigen übrigen Holzlatten wieder so hin, dass die Matratze nicht mehr auf dem Boden zusammensackt. Ich habe Rückenweh. Ich wringe meine Tränensäcke am Waschbecken aus, Füllstand: sechs Zentimeter.
Wie ein Zombie humpel’ ich danach zur Kaffeemaschine und ignoriere beim Hochheben der Kanne, wie die Kaffeebohnen aufgeschreckt ins Dunkel fliehen.
Will den Kaffee in der Mikrowelle warm machen, der saure Geruch im Inneren schließt die Tür wie von selbst.
Dann halt kalt.
Nach einem Schluck kippe ich ihn ins Waschbecken und schaue dabei zu, wie er dort nicht abläuft.
Heute ist Waschtag.
Ich ziehe die Gummistiefel an, mit Wäschekorb bewaffnet gehe ich in den Keller.
Wie bei einem Kind, das man einmal im Monat misst, um das Wachstum mit Stift an der Wand zu notieren,
notiere ich, wie sehr der gigantische Riss im Keller gewachsen ist. Sie werden so schnell groß.
Es riecht süßlich, aber etwas herber als das Fango-Bad.
Unten am Treppenhaus angekommen, sehe ich nicht, ob ich schon auf der letzten Stufe bin – das Wasser ist zu trüb.
Maschine drei scheint zu laufen, nur ohne Kleider und auch schon seit gestern.
Völlig überanstrengt, das arme Ding. Sie weint laut auf und die Tränen fließen im Strahl.
Maschinen eins und zwei bleiben also noch übrig.
Ich stehe vor der Eins.
Ob ich richtig steh’, riech’ ich, wenn die Tür aufgeht.
Gut, dass ich mir eine Tüte eingepackt habe.
Wütend stopfe ich die Wäsche in Maschine zwei.
Zahlen.Ich habe ein zwei-Euro-Stück.
Die Maschine möchte 1.60 und kann nicht wechseln.
Ich runde auf und gebe 40 Cent Trinkgeld.
Ohne Schlüssel und ohne abzuschließen gehe ich zur Vorlesung.
Aus dem Eingangsbereich heraus grüße ich zwei Leute mit Bolzenschneider, die sicher ihre eigenen Fahrräder knacken.
Ich laufe wie immer hinter’m Haus zur Hochschule und schaue beiläufig, ob es etwas zu plündern gibt.
In sechsfacher Ausführung mustere ich die Schilder, die der Hausmeister letzten Monat angebracht hat:
“Sperrmüll abstellen verboten.”
Ein sehr ironisches Werk – der Mann sollte Kleinkünstler werden.
Seit neuestem hat er die Auswahl an Einrichtungsstücken sortiert.
Die Holzabteilung sieht ziemlich ramponiert und morsch aus. Dafür steht vorne sehr präsent ein Spiegelschrank.
Das Holz ist noch robust, hat nette Verzierung, farblich dunkel lasiert mit einem Muster aus Pfotenabdrücken. Haustiere sind leider nicht erlaubt, aber keine Sorge, denn Ratten haben wir auch.
Die sieben gestapelten Matratzen zu meiner Rechten bilden einen Farbübergang von grau nach gelb.
Elektroartikel scheint es keine neuen zu geben.
Aber da haben wir auch letztens erst einen lächerlich großen Fernsehbildschirm ergattert.
Zu unserer Verwunderung war er funktionstüchtig, allerdings wäre eine Photosensitivity-Warnung angebracht gewesen. Die eine Hälfte hätte eine Psytrance Party im Wald ausleuchten können.
Jetzt aber zur Hochschule.
Nach den Vorlesungen gehe ich zum Netto und treffe einen Mitbewohner, wie er wieder rausläuft. Stolz zeigt er unser neues Toilettenpapier.
Es ist gut, sich als WG die Besorgungen für den Haushalt aufzuteilen. Dann muss nicht eine Person alles allein klauen.
Auf dem Rückweg zum Quartier treffe ich Stefan.
Stefan ist sehr breit und fährt natürlich ein protziges Fahrzeug.
Er lässt leise das Radio im Feuerwehrauto laufen. unsere Gespräche beschränken sich meist auf Zunicken und mitleidige Blicke. Ich bin schon gespannt, warum er heute da ist.
Ab in die WG,
ich öffne die Brandschutztür und es erscheint ein Vorhang aus Wasser – funktioniert wohl einwandfrei. Vor meinem Zimmer bemerke ich, dass meine Tür verschlossen ist.
Der Hausmeister ist von neun bis zwölf im Haus.
Wir haben 17 Uhr. Ich schlage auf die Tür ein, viel hält sie sicher nicht aus.
Ein Mitbewohner kommt raus, Haare und T-Shirt sind nass. Sein Blick erinnert mich an den Joker-Film.
“Arif ist nochmal hergekommen falls du ihn suchst.”
Ich renne los.
Andere Seite des Gebäudes, dritter Stock.
Ich habe Arif gefunden: Er unterhält sich mit zwei Leuten vom Abwasser-Notfalldienst. Er macht seinen Satz zu ende und grüßt mich.
“Kannst du mein Zimmer aufschließen? Ich habe meine Schlüssel vergessen.”
Kurzes Schweigen.
“Mach ich gleich.”
20 Minuten später bin ich mit ihm in der Küche.
Er trinkt einen Schluck von unserem kaffee und zündet eine Kippe an, schildert mir die Situation. Im dritten Stock hat jemand den Hahn für mehrere Tage laufen gehabt und damit sein Zimmer geflutet. Er deutet auf die Decke.
“Das war über euch. Bei dir ist nichts passiert. Aber ein Zimmer weiter ist die Deckenlampe vollgelaufen und die Steckdosen haben getropft.”
Weinende Steckdosen stelle ich mir niedlich vor.
Arif bedankt sich für den Kaffee, stellt die noch volle Tasse ab und zieht von dannen. Hoffentlich hat er bald Feierabend.
Wir sind alle sehr froh, ihn zu haben.
Davor war das noch ganz anders:
Den letzten Hausmeister konnte man meist nicht im Büro, sondern auf seiner Terrasse antreffen.
Zumindest machte er sich bemerkbar und man konnte einfach den Stimmen eines rechtsextremen Podcasts folgen.
Mit der für ihn richtigen Hautfarbe konnte man sogar ein paar wenige Worte wechseln, wobei man seine Monologe vor lauter Aluhut nicht mehr verstehen konnte.
Ich öffne den Kühlschrank und sortiere die Lebensmittel wieder in mein eigenes Fach ein.
Tipps fürs WG-Life:
Eier an die Decke des Kühlschranks tapen?
Prinzipiell eine gute Idee, aber klaut euch dafür nicht das billigste Tape im Netto.
Das Pesto leert sich von selbst?
Schneidet kleine Fetzen aus Baumwolle aus, Pro-Tipp, tunkt es ein wenig in grüne Lebensmittelfarbe. Problematisch wird es nur, wenn ihr nicht mehr erkennt, ob darin auch echter Schimmel wächst.
Ihr wisst nicht, ob jemand euer Shampoo verwendet?
Lasst die Packung im Zimmer und stellt dafür eine zweite in die Dusche, die ihr zuvor mit blauer Powerade oder Haarfarbe befüllt habt.
Beim Kochen lasse ich die Pfanne auf meinem Fuß fallen, der Griff war schmierig. Ich entsorge den fabrizierten Biomüll und sehe, dass er bereits geleert wird: Eine Straße aus hunderten kleinen Helfern räumt die Reste in eine der hohlen Wände ein.
Nach dem Essen und drei Striche auf der Kakerlaken-Kill-Liste später treffe ich einen Mitbewohner.
Seine Haare sind blau – der Trick hat funktioniert.
Wir spielen Jenga:
Er nimmt einen Teller und legt ihn oben auf das Abtropfgitter.
Mit drei zu zwei hat er mehr Teller als ich vernichtet und muss die Sauerei wegräumen.
Danach Verstecken:
Wie immer gewinnt das WLAN.
Ich wollte eigentlich noch duschen gehen.
Ich lass‘ die Dusche laufen und überprüfe vorher den Wasserstrahl. Er ist wie ein alter Mann beim Pinkeln: Nur ein paar Tröpfchen, farblich schockierend und dazu ein leises Stöhnen.
Dann wohl morgen.
Vor dem Schlafengehen schau’ ich nochmal in mein Postfach. Mein Vermieter hat geantwortet. Mit breitem Grinsen pack’ ich meine Sachen,
ich überlege, noch ein Graffiti zu hinterlassen, aber möchte das Wohnheim nicht mit meinem Vandalismus für neue Mieter attraktiver wirken lassen.
Dann gehe ich zur Haltestelle “Hochschule Nord” – endlich mal eine Nacht, in der ich durchschlafen kann.
Vielen Dank.
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