Ein Besuch im Bestattungsinstitut Kahrhof
von Christine Gerstmaier (06.Aug.2025)

Illustration: Margo Sibel Koneberg
„Trauer ist der Schatten der Liebe!“ – In kindlicher Handschrift steht dieser Satz auf dem hellbraunen Sarg vor mir. Daneben: kleine Sonnen, Herzen, Blumen und Avocados, wild auf dem Holz verteilt, liebevoll dahin gekritzelt. „Dieser Sarg wird einem Verstorbenen ohne Angehörige zur Verfügung gestellt“, erklärt mir Senta Kahrhof. Bemalt wurde er von Schulklassen als Teil einer Exkursion, die Kindern den Umgang mit Tod und Trauer näherbringen soll.
Ich stehe mit ihr im Keller des Bestattungsinstituts Kahrhof. Um uns herum: eine riesige Auswahl an Särgen und Urnen – aus Holz, in Baumrindenoptik, aus Papier, ja sogar ein biologisch abbaubarer Pilzsarg, der aus Myzel gezüchtet wurde. Inmitten dieser Behältnisse frage ich mich, wie es wohl sein muss, sich tagtäglich mit dem Tod zu beschäftigen.
Für Senta ist dieses Thema allgegenwärtig und das bereits seit ihrer Geburt. Sie ist mit dem Bestattungsinstitut Kahrhof groß geworden. Seit 1860 ist es ein Familienbetrieb, direkt am Rand des Martinsviertels in Darmstadt. „Ich bin eine geborene Kahrhof“, sagt Senta mit hörbarem Stolz. Obwohl sie inzwischen verheiratet ist, hat sie ihren Nachnamen behalten. Heute führt sie das Unternehmen – nicht als Bestatterin, sondern als Geschäftsführerin, die ihren Betrieb wie ihre Westentasche kennt. Gemeinsam mit einem Team aus zehn bis fünfzehn Bestatter:innen und Aushilfen organisiert sie den Alltag: Personal, Einkauf, Marketing – all das liegt in ihrer Verantwortung.
Ein Beruf für Allround-Talente
Heute darf ich sie kennenlernen. Zum ersten Mal in meinem Leben betrete ich ein Bestattungsinstitut und kann mir kaum vorstellen, wie so ein Ort aussieht, wie er aufgebaut ist und welche Menschen dort arbeiten. Als ich ankomme, nehme ich für einige Minuten im Wartebereich Platz. Die Wände sind weiß gestrichen, ein paar grüne Pflanzen sind im Raum verteilt. An den Wänden hängen alte Gemälde von Straßen und Gebäuden Darmstadts. Für einen Moment fühle ich mich wie im Wartezimmer einer Arztpraxis – nur, dass hier statt Menschen in Kitteln zwei Männer in eleganter Kleidung durch den Raum laufen. Sie tragen schwarze Anzugshosen und enge schwarze Westen mit hellen Hemden darunter.
Nach einigen Minuten begrüßt mich Senta. Sie lächelt, wirkt selbstbewusst und freundlich, und doch strahlt sie eine gewisse Autorität aus. Offen erzählt sie von ihrem Beruf, und es wird schnell klar: Sie spricht gerne darüber. „Wenn ich auf einer Party bin und jemand erfährt, dass ich ein
Bestattungsinstitut leite, bildet sich oft eine Traube von Menschen um mich. Die Leute haben unglaublich viele Fragen“, erzählt sie. Im Bestattungswesen zu arbeiten, scheint viele zu faszinieren. Vielleicht, weil es ein Beruf ist, den sich die meisten selbst nicht zutrauen würden.
Und dieses Gefühl ist nicht unbegründet. Senta führt mich durch die Räumlichkeiten und erzählt mir mehr von den vielfältigen Aufgaben als Bestatter:in: „Flexibel muss man sein – und ein echtes Allround-Talent auch.“ Von Rechnungsstellung über die Dekoration bis hin zu intensiven Gesprächen mit Angehörigen müssen Bestatter:innen in allen Bereichen sattelfest sein: organisiert, empathisch, emotional als auch körperlich belastbar.
„Manchmal sterben Menschen bei 40 Grad im dritten Stockwerk“, sagt Senta. „Da kommt es schon mal vor, dass meine Mitarbeiter:innen in praller Hitze um die hundert Kilo Körpergewicht aus dem Haus tragen müssen.“
„Jeder von uns hat schon getrauert“
Im Innenhof führt sie mich zu den Bestattungswagen. Hier werden die Verstorbenen transportiert. Senta öffnet die hinteren Türen eines Fahrzeugs und sofort strömt mir ein starker undefinierbarer Geruch entgegen. Der Innenraum wirkt steril: weiße Wände, am Boden Metallschienen, in die Liegen eingefahren und fixiert werden können. An der Trennwand zum Fahrersitz hängt ein großes Bild von einem friedlichen grünen Wald. Wahrscheinlich soll es die Atmosphäre im Wagen weniger kühl wirken lassen. Bei der Vorstellung, eines Tages selbst in einem solchen Wagen zu liegen, wird mir aber mulmig. Ich merke, wie oft ich dem Thema Tod im Alltag ausweiche. Und ich frage mich, welches Bild Senta wohl vom Tod hat – eine Frau, die mit Bestattungen regelrecht aufgewachsen ist.
„Der Tod ist ein Teil des Lebens“, sagt sie. Viele Menschen glauben, noch keine Erfahrung mit dem Tod gemacht zu haben. „Dabei hat jeder von uns schon getrauert – jedes Mal, wenn wir Abschied nehmen mussten. Wenn wir etwas hinter uns lassen, ein Lebensabschnitt, einen Ort oder einen Menschen, dann trauern wir. Und doch beginnt mit jedem Abschied auch etwas Neues.“ Für Senta ist klar: Ein Abschied muss nicht zwangsläufig etwas Schlimmes sein.
Trotzdem gibt es Bestattungen, die auch Senta und ihrem Team sehr nahegehen. „Was uns allen immer besonders zu Herzen geht, ist, wenn Kinder oder junge Erwachsene sterben“, erzählt sie. „Für meine Mitarbeiter:innen ist es oft besonders belastend, wenn es sich dann auch noch um Verkehrsunfälle handelt. Dann müssen sie die Verstorbenen teilweise selbst bergen.“ Die Trauer, sagt sie, sei in solchen Fällen im ganzen Betrieb spürbar. Deshalb rät Senta angehenden Bestatter:innen, sich bewusst ein Gegengewicht zum Berufsalltag zu schaffen: Eine Freizeitaktivität, an der sie viel Energie tanken können und echte Lebensfreude spüren.
„Es ist wichtig ein Kontrastprogramm zu haben, zu dem, was wir hier leisten.“
Auch Senta selbst kommt in manchen Momenten nicht darum herum, Angst vor dem eigenen Tod zu empfinden. Nicht unbedingt vor dem Sterben an sich. „Wenn ich nicht mehr da bin, dann bin ich nicht mehr da. Ich glaube, es kann sich auch ganz schön anfühlen, einfach loszulassen“, sagt sie. Was ihr jedoch wirklich Sorge bereitet, ist der Gedanke, ihre Angehörigen, insbesondere ihren Sohn, allein zurückzulassen. Selbst wer im Bestattungswesen arbeitet, könne sich der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod und dessen Folgen nicht völlig entziehen. „Diese Sorgen legt man nie ganz ab. Ich glaube, kein Mensch kann das wirklich.“ Gleichzeitig betont sie, wie wichtig es sei, sich therapeutische Hilfe zu suchen, wenn die Angst vor dem Tod omnipräsent wird.
Die letzte Feier
Senta führt mich weiter zu einer großen Tür. Sie wirft einen prüfenden Blick in den Raum, während ich hinter ihr warte. Dann gibt sie mir ein Zeichen, dass ich eintreten darf. Der Raum ist groß und lang, mit hohen Decken. In der Mitte steht eine silberne, metallene Liegefläche. Auf einer Arbeitsfläche daneben entdecke ich einige Werkzeuge, die mich an chirurgisches Besteck erinnern. „Das ist der Versorgungsraum“, erklärt Senta. Hier werden Verstorbene gewaschen und umgezogen. Manchmal müssen auch Wunden zugenäht oder der Körper auf andere Weise versorgt werden. Während ich die Liege betrachte, wächst mein Respekt vor dem, was Bestatter:innen täglich leisten und vor den vielen Fähigkeiten, die dieser Beruf erfordert.
Senta erzählt mir, wie wichtig auch Geduld im Arbeitsalltag ist. Bevor eine Bestattung geplant wird, führen die Bestatter:innen lange Gespräche mit den Angehörigen. Ab und zu ist Senta selbst bei diesen Gesprächen dabei. „Manche Angehörigen, mit denen wir sprechen, sind schon älter“, sagt sie. „Dann redet man bereits eine halbe Stunde miteinander, bis wir plötzlich merken, dass diese Person an Demenz leidet.“ Ab diesem Moment würden die Gespräche deutlich schwieriger werden. Und trotzdem, sagt Senta, sei gerade dann Geduld besonders wichtig, denn es ist ihr und ihrem Team ein Anliegen, jeden Menschen würdevoll und passend zu seiner Persönlichkeit zu verabschieden.
In der Trauerhalle erzählt sie mir von besonders individuellen Wünschen: Es kam schon vor, dass Motorräder neben dem Sarg standen oder riesige Konzertflügel transportiert werden mussten. Nicht immer entsprächen die Anfragen ihrem eigenen Geschmack.
„Aber ich finde es schön, wenn es individuell ist. Es soll zu den Verstorbenen passen, schließlich ist es ihre letzte Feier.“
Ich bleibe an dem Begriff hängen: Feier. Es nimmt der Bestattung etwas von ihrer Bedrohlichkeit, wenn man sie als das versteht, was sie auch sein kann: ein bewusster Abschied, ein Innehalten, vielleicht sogar eine Würdigung des gelebten Lebens. „Die Trauerfeier ist ein essenzieller Schritt in der Verarbeitung“, sagt Senta. „Da kommen alle zusammen, oft auch Menschen, die man seit Jahren nicht gesehen hat.“
Sprechen statt Todschweigen
Viele Angehörige hätten Angst davor, im Trauercafé mit so vielen Personen konfrontiert zu sein. Doch genau darin sieht Senta einen wichtigen Schritt ins neue Leben. „Ich finde es schade, wenn Angehörige sagen, sie möchten das Trauercafé nur im kleinsten Kreis abhalten und andere Gäste ausladen.“ Die Entscheidung könne sie nachvollziehen, gerade in Zeiten großer Verletzlichkeit. Doch Senta ist überzeugt: Wer ausgeladen wird, fühlt sich oft nicht nur von der Feier, sondern auch vom Leben der Trauernden ausgeschlossen. Häufig würden sich diese Menschen danach nicht mehr melden, aus der Annahme heraus, die Betroffenen wollten lieber allein mit ihrer Trauer bleiben. Dabei sei die Zeit nach der Bestattung eine Phase, in der Angehörige Trost und Gemeinschaft brauchen.
Dadurch, dass dem Thema Tod so oft ausgewichen wird, wissen viele nicht, wie sie mit Trauer umgehen sollen – weder als direkt Betroffene noch als Freund:innen oder Bekannte. Die Angst, etwas Falsches zu sagen oder sich nicht richtig zu verhalten, ist groß. Gerade deshalb braucht es Orte, an denen offen über Tod und Trauer gesprochen werden kann. Senta führt mich in einen Gemeinschaftsraum neben der Trauerhalle. Hierher kommen regelmäßig Schulklassen. Kinder und Jugendliche dürfen sich austauschen und Fragen stellen, sowohl zum Beruf als Bestatter:in, aber auch ganz konkret zum Tod.
Menschen wie Senta machen den Tod ein Stück weit begreifbarer, denn durch das offene Gespräch verliert er etwas von seiner Bedrohlichkeit. Als ich das Bestattungsinstitut verlasse, denke ich an den Satz auf dem bemalten Sarg zurück: „Trauer ist der Schatten der Liebe.“ Vielleicht liegt darin auch ein Trost – dass der Tod nicht nur das Ende bedeutet, sondern auch ein Spiegel dessen ist, was im Leben wichtig war.



