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Diagnose: Panikstörung

Über Maries Umgang mit der Angst 

von Christine Gerstmaier (22.Jan.2025)

Zum Schutz der Persönlichkeit wurde der Name der Protagonistin geändert. Folgender Text behandelt die  subjektive Sicht und Erfahrung einer Person. Sie dient nicht als Repräsentantin aller Betroffenen mit generalisierter Angst- und Panikstörung. 

„Zuerst fühlt es sich an, wie ein Ziehen in der Brust. Dann wird mein Arm ganz taub und  auf einmal schnürt sich alles in mir zu. Das Gefühl wandert weiter in meine Beine. Meine  Füße fangen an zu kribbeln, als würde das Blut aus mir herausgezogen werden. Ich glaube,  ich werde ohnmächtig.“

Als Marie ihre erste Panikattacke hatte, dachte sie, es wäre ein Herzinfarkt – Da wusste sie noch nicht, dass das, was sie erlebte, viel mehr als nur  körperliche Beschwerden waren. Bei einem Facetime-Anruf erzählt sie mir von ihrer  Kindheit, Jugend und ihren Ängsten. Dabei trinkt sie eine Tasse Tee. Marie ist im Redefluss,  spricht klar und deutlich, in ihrer Trainingsjacke wirkt sie lässig – Auf den ersten Anschein  hätte ich nicht gedacht, dass sie jemals unter einer generalisierten Angststörung (GAS)  und einer Panikstörung gelitten haben könnte.

Illustration: Margo Sibel Koneberg

Dabei kommen Angststörungen überhaupt nicht so selten vor: Im Zeitraum von 2013 bis 2022  ist die Anzahl an Diagnostizierten laut der Innungskrankenkasse IKK um 37,5 Prozent  gestiegen. Die LIMES Schlossklinik Fürstenhof schätzt auf ihrer Webseite, dass 10 bis 15  Prozent der Bevölkerung in ihrem Leben mindestens eine Panikattacke erleben.  Angststörungen gehören neben Depressionen zu den häufigsten psychischen  Erkrankungen in Deutschland. Trotzdem wird dieses Thema in unserer Gesellschaft immer  noch totgeschwiegen. Umso wichtiger ist es, mit Marie offen über ihre Erfahrungen zu  sprechen. 

Wie ein Feuer  

Marie ist 25. Die Diagnosen GAS und Panikstörung bekam sie erst im Oktober 2022. „Also  relativ spät. Die generalisierte Angststörung hatte ich eigentlich schon mein Leben lang.“  Panikattacken hatte sie als Kind aber noch nicht. Es waren vielmehr Ängste und Sorgen,  die sie bereits in jungen Jahren dauerhaft plagten.  

„Bei der GAS sind Patient:innen in der Regel ständig unter Angst und Anspannung“,  erzählt mir Alexandra Mihm, Leiterin der Klinik für Psychosomatische Medizin und  Psychotherapie in Darmstadt. „Diese Angst ist häufig sehr diffus vorhanden und hört zu  keinem Zeitpunkt richtig auf.“ Es gebe oft keinen richtigen Auslöser. Patient:innen würden  häufig schon mit Angstgefühlen aufwachen, die sie im Alltag ständig begleiten.  Magenbeschwerden, Durchfall, trockener Mund, innere Unruhe, zittern, Herzklopfen – 

Jeden Tag, zu beinahe jedem Zeitpunkt.

erklärt mir Frau Mihm.  

So ging es auch Marie, bis irgendwann auch noch die Panikattacken dazukamen. Nach  kurzem Zögern erzählt sie mir, dass sie in der frühen Jugend mehrfach vergewaltigt  wurde. Als sie im Frühjahr 2022 dann auch noch eine Abtreibung durchlebte, fiel sie in ein  Loch und Panikattacken wurden zu ihrem Alltag. Marie ist sich sicher, dass ihre schweren  Traumata der Auslöser für ihre Angststörung seien. Dabei erklärt mir Frau Mihm, dass es  durchaus häufig vorkomme, dass auch Patient:innen ohne schwerwiegendem Trauma  eine Angststörung entwickeln. „Es kann tatsächlich auch mehr oder weniger ‚aus dem  Nichts‘ oder aus anderen belastenden Kindheits- oder Erlebnissituationen entstehen.“  Eine genetische Veranlagung schließe die Psychotherapeutin aber aus. Vielmehr soll ein  vermindertes Selbstwertgefühl aufgrund von beispielsweise schwierigen familiären  Verhältnissen ein häufiger Auslöser für Angsterkrankungen sein.  

Angst vor der Angst  

Marie erzählt mir mehr über ihren Alltag mit Panikattacken, während sie mit den Ringen  an ihren Fingern spielt. „Ich hatte mich komplett eingeschränkt. Ich war fast nur zu Hause,  habe nicht mehr mit meinen Freunden gechillt. Ich habe mich nicht mal mehr getraut, in  einen Park zu gehen.“ 

Solches Vermeidungsverhalten ist nachvollziehbar: Häufig würden Betroffene während  einer Panikattacke gerne die Situation verlassen. „Dann ist die Panik auch erstmal wieder  weg“, erklärt mir Frau Mihm. Genau dieses Verhalten hält sie aber für gefährlich – Wichtig  sei es, in diesen Situationen aufgeklärt zu sein, Ruhe zu bewahren und diesen nicht zu  entfliehen. „Wenn man vermeidet, dann ist es wie eine Bestätigung der Angst.“ Was sich  dann im Moment der Vermeidung wie eine Erleichterung anfühlt, schwanke schnell zu  einer sogenannten ‚Angst vor der Angst‘ – Und ehe sie sich versehen, trauen sich  Betroffene kaum noch, außer Haus zu gehen.  

„Ich habe mich total an ihn geklammert“  

Zu Hause verbrachte Marie vor allem viel Zeit mit ihrem Freund. Mit ihm teilte sie nicht nur  ihre derzeitige Wohnung, sondern auch ihre Bürde. „Ich habe mich total an ihn  geklammert. Wenn er nicht zuhause war, musste er immer für mich erreichbar sein, was  im Endeffekt auch unsere Beziehung zerstört hat.“ 

Bei einer repräsentativen Umfrage der  Online-Partnervermittlung ElitePartner gaben 2022 sieben Prozent der knapp 4.000  Befragten an, eine Trennung aufgrund einer psychischen Erkrankung erlebt zu haben.  Kaum verwunderlich, denn auch für Angehörige kann es eine schwere Belastung sein,  wenn sie sehen, dass einem nahestehende Personen einen großen Leidensdruck erleben.  Angehörige können dann das Gefühl bekommen, für die mentale Gesundheit ihrer  Liebsten Verantwortung tragen zu müssen. 

Auch Frau Mihm bestätigt mir, dass sich Angstpatient:innen häufig wünschen, in akuten  Paniksituationen nicht auf sich allein gestellt zu sein. „Es ist wichtig, dass Betroffene  üben, sich beängstigenden Situationen alleine zu stellen.“ Sie könnten sich sonst ein  Vermeidungsverhalten anlernen, bei dem sie sich immer weniger zutrauen, ihre Ängste  alleine bewältigen zu können. Das hieße aber nicht, dass Betroffene sofort ins kalte  Wasser geworfen werden sollen: „Es gibt Menschen, denen es mehr bringt, sich Schritt  für Schritt ihren Ängsten anzunähern.“ Hätte jemand beispielsweise große Angst, in einen  Supermarkt zu gehen, dann könne der/die Angehörige beim ersten Mal mit hineingehen,  beim zweiten Mal draußen warten und beim dritten Mal die betroffene Person ganz alleine  gehen lassen. 

Schönster Seetag  

Marie ist inzwischen dankbar, dass ihr damaliger Freund sich von ihr getrennt hat. Sie  glaubt, ohne der Trennung hätte sie es nicht geschafft, selbstständig aus der Angstspirale  zu entkommen. „Erstmal hatte ich wieder ganz schön Panikattacken, ich hatte ja meine  Wohnung verloren, meinen Partner, meine komplette Stütze. Aber dann hatte ich eine  Freundin kennengelernt.“ Die Freundin lud Marie ein, in einer Gruppe gemeinsam an einen  See zu fahren, anderthalb Stunden weit weg von Berlin in praller Hitze – Eigentlich ein  Albtraum für Marie. „Ich kannte die Leute nicht, in der Hitze fällt man eher in Ohnmacht  und so weit weg von zuhause kann ich nicht mal schnell Heim fahren. Da sind erstmal alle  Alarmglocken in mir angeschlagen.“  

Nach langem hadern, hatte sich Marie aber getraut, dem Ausflug eine Chance zu geben.  Mit einem Strahlen im Gesicht erzählt sie mir von ihrem schönsten Seetag: „Wirklich,  dieser Tag war voller Liebe! Wir sind mit einem Boot immer wieder ins Wasser  reingegangen, hatten Musik gehört, es war so cool!“ Ihre Freundin erzählte ihr dort, dass  sie ihren Winter auf Bali verbringen wird und da bemerkte Marie: Sie will das auch.  

„Das war das Beste, was ich hätte machen können“  

Mehrere Monate reiste Marie auf Bali – Hardcore Konfrontationstherapie sozusagen.  „Dass ich das gemacht habe, das war das Beste, was ich hätte machen können. Ich hab’  mich einfach getraut!“ Panikattacken hatte sie seitdem keine mehr und auch ihre  generellen Sorgen haben seit der Reise abgenommen. Sie hat gelernt, dass selbst wenn  sie Angst hat, sie die Dinge durchstehen wird. Marie möchte Betroffene dazu ermutigen,  dass die Diagnose Angststörung kein Dauerzustand für das gesamte Leben sein muss.  „Da, wo ich emotional jetzt bin, sind glaube ich viele Menschen in meinem Alter noch  nicht. Ich habe das Vertrauen, dass mir eigentlich nichts mehr was kann – Und dafür habe  ich einfach den f*cking Crashkurs gemacht.“

Telefonseelsorge für Erkrankte und Angehörige (24/7 erreichbar) 0800 1110111 / 0800 1110222 

krisenchat.de (24/7 erreichbar) 

Sozialpsychiatrischer Dienst Darmstadt 

Telefonisch erreichbar mo.-do. 8-16 Uhr, fr. 8-12 Uhr: 06151 3309 290 Per Mail soz-psych-dienst@gesundheitsamt-dadi.de 

Psychotherapeutische Beratungsstelle h_da: 

Telefonisch erreichbar: fr. 9-11 Uhr: 06151 16296862 

Liste an Therapeut:innen in deiner Stadt: 

therapie.de 

Dein:e Hausarzt:in



Diagnosis: Panic Disorder

Marie’s Journey with Anxiety

by Christine Gerstmaier (22.01.2025)

This text includes detailed descriptions of anxiety and panic attacks, with mentions of sexual abuse and abortion.


To protect the individual’s identity, the protagonist’s name has been changed. The following account reflects the subjective experiences of one person and does not represent all individuals with generalized anxiety disorder (GAD) or panic disorder.

“At first, it feels like a pulling sensation in my chest. Then my arm goes numb, and suddenly everything tightens up inside me. The feeling travels to my legs. My feet start to tingle as if the blood is being drained from my body. I think I’m about to pass out.”

When Marie experienced her first panic attack, she thought she was having a heart attack—unaware that her symptoms were more than physical distress. During a FaceTime call, she shares stories of her childhood, adolescence, and struggles with anxiety. Sipping tea, Marie speaks confidently and articulately. Dressed in a casual tracksuit, she gives off an easygoing vibe. At first glance, you wouldn’t suspect that she had battled generalized anxiety disorder (GAD) and panic disorder.

Illustration: Margo Sibel Koneberg

Anxiety disorders, however, are more common than one might think. Between 2013 and 2022, the number of diagnosed cases increased by 37.5%, according to Germany’s IKK health insurance fund. The LIMES Schlossklinik Fürstenhof estimates on its website that 10–15% of the population will experience at least one panic attack in their lifetime. Alongside depression, anxiety disorders are among the most common mental health conditions in Germany. Despite this, society continues to stigmatize these conditions. This makes it all the more important to have open conversations with people like Marie about their experiences.

Like a Fire

Marie is 25 years old. She was officially diagnosed with GAD and panic disorder in October 2022. “So, relatively late. But I’ve really had generalized anxiety my whole life.” As a child, Marie didn’t experience panic attacks; instead, she was plagued by constant worries and fears.

“With GAD, patients are usually in a state of constant anxiety and tension,” explains Alexandra Mihm, head of the Clinic for Psychosomatic Medicine and Psychotherapy in Darmstadt. “This anxiety is often very diffuse and doesn’t stop at any point.” Unlike panic attacks, GAD often has no specific trigger. Patients may wake up feeling anxious, and the sensation follows them throughout the day. Symptoms can include stomach issues, diarrhea, dry mouth, restlessness, trembling, and rapid heartbeat—almost every moment of every day.

Mihm says.

This was Marie’s reality until panic attacks entered the picture. After a pause, she reveals that she was repeatedly assaulted in her early teens. In spring 2022, she had an abortion, which plunged her into a dark period, making panic attacks a daily occurrence. Marie firmly believes her severe trauma triggered her anxiety disorder. However, Mihm clarifies that anxiety disorders can also develop in individuals without significant trauma. “It can arise seemingly ‘out of nowhere’ or from other distressing childhood or life experiences.” Genetic predisposition is unlikely, according to Mihm. Instead, low self-esteem—often stemming from difficult family circumstances—is a more common factor.

Fear of Fear

While fidgeting with her rings, Marie recounts how panic attacks took over her life. “I completely limited myself. I barely left the house, stopped hanging out with friends, and didn’t even dare to go to a park.”

This kind of avoidance behavior is understandable; during a panic attack, many people want to leave the situation. “And in the moment, the panic often subsides,” Mihm explains. However, this avoidance can become problematic. It’s crucial to stay informed, remain calm, and resist fleeing from panic-inducing situations. “Avoidance essentially reinforces the fear,” Mihm says. What initially feels like relief can quickly spiral into “fear of fear,” leaving people unable to venture outside.

“I Clung to Him”

At home, Marie spent most of her time with her boyfriend. They shared not only an apartment but also the emotional burden of her condition. “I clung to him completely. When he wasn’t home, he had to be reachable at all times. Ultimately, it destroyed our relationship.”

In a 2022 survey by the dating platform ElitePartner, 7% of 4,000 respondents said they had ended a relationship due to a partner’s mental illness. This isn’t surprising, as it can be incredibly challenging for loved ones to witness someone’s psychological distress. Caregivers may feel responsible for their partner’s mental health, leading to significant strain.

Mihm emphasizes the importance of learning to face anxiety-provoking situations independently. “Patients need to practice confronting such situations alone. Otherwise, they risk developing avoidance behaviors that leave them increasingly dependent.” However, Mihm doesn’t recommend a “sink-or-swim” approach. For some, gradual exposure is more effective. For example, someone afraid of going to the supermarket might first go with a companion, then try going alone while the companion waits outside, and eventually shop entirely on their own.

The Best Day at the Lake

Marie is now grateful that her ex-boyfriend broke up with her. She believes the breakup forced her to break free from the cycle of fear. “At first, I had a lot of panic attacks. I’d lost my home, my partner, my entire support system. But then I met a friend.”

This friend invited Marie to join a group trip to a lake—an hour and a half away from Berlin on a sweltering summer day. For Marie, this sounded like a nightmare. “I didn’t know the people. In the heat, I was afraid of fainting. And being so far from home meant I couldn’t retreat. All my alarm bells went off.”

Despite her fears, Marie took a chance on the trip. Smiling brightly, she describes the day as her “best day at the lake.” “That day was pure love! We kept jumping into the water, listening to music. It was amazing!” Inspired by her friend’s plans to spend winter in Bali, Marie realized she wanted to do the same.

“It Was the Best Thing I Could Have Done”

Marie spent several months in Bali, undergoing what she calls “hardcore exposure therapy.” “Doing that was the best decision I could have made. I just went for it!” Since her trip, Marie hasn’t had any panic attacks, and her general worries have significantly diminished. She’s learned that even when she feels fear, she can get through it.

Marie hopes her story will encourage others to see that a diagnosis of anxiety disorder doesn’t have to define their entire lives. “Emotionally, I think I’m in a place that many people my age haven’t reached yet. I trust that nothing can really shake me anymore—and I got there through a crash course.”

Crisis Hotline (24/7): 0800 1110111 / 0800 1110222

krisenchat.de (24/7)

Darmstadt Social Psychiatric Service: Call Mon–Thu 8 AM–4 PM, Fri 8 AM–12 PM: 06151 3309 290 or email: soz-psych-dienst@gesundheitsamt-dadi.de

h_da Psychological Counseling Center: Call Fridays 9–11 AM: 06151 16296862

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