Über das neue Bettelverbot in Darmstadt
von Louisa Albert (27.Aug.2025)
“Ich bin wütend”, ruft die junge blonde Frau vor dem Luisencenter ins Mikrofon. “Ich bin wütend darüber, wie die Stadt Darmstadt mit mittellosen Menschen umgeht.” Mit ihrer Wut ist sie nicht alleine. In kleinen Gruppen drängen sich ihre Zuhörer:innen zusammen – trotz des Regens, der einem die Sicht erschwert und die Klamotten durchnässt. Sie haben Flaggen dabei und Plakate, um ihren Unmut darüber kundzutun, dass die Stadt Darmstadt eine Verordnungsänderung beschlossen hat: Seit dem 2. April dürfen Menschen in Darmstadt nicht mehr aktiv um Geld bitten. Die Pfui!-Rufe der Menge wehen über den Luisenplatz, ein paar Passant:innen bleiben stehen, die meisten sehen schnell wieder weg. Einer, der nicht wegschaut, sondern konzentriert nach vorne blickt, ist Jascha. Er ist Mitglied der sozialistischen deutschen Arbeiterjugend in Darmstadt, kurz SDAJ. Gemeinsam mit Queer Liberation, Young Struggle und Mera25 haben sie zur Kundgebung aufgerufen. “Das Bettelverbot trifft die Allerärmsten der Gesellschaft”, kritisiert er. Auf Nachfrage bei der Stadt begründet diese ihre Entscheidung mit einer Zunahme von Beschwerden über bettelnde Personen. Das könne Jascha nicht nachvollziehen. “Einige Menschen fühlen sich dadurch gestört, diese Armut und diesen Verfall zu sehen. Das ist kein schöner Anblick, aber es ist die Realität und davor sollte man die Augen nicht verschließen.”

Illustration: Margo Sibel Koneberg
Teil 1: Die Realität
*Name geändert
Ein paar Wochen später auf dem Darmstädter Marktplatz; die Frau mit dem blauen Bollerwagen fällt schon von weitem auf. Petra Bier bietet direkt das Du an, das finde sie besser. In ihrem Wagen hat sie Styroporkisten mit gekühlten Getränken dabei, es sind die bisher heißesten Tage in diesem Sommer. Während in den Medien, zuhause am Küchentisch oder auf der Stadtverordnetenversammlung über obdachlose Menschen gesprochen, debattiert und gemutmaßt wird, zieht Petra einfach los und packt selbst an. Seit vier Jahren unterstützt sie obdachlose Menschen in Darmstadt – ehrenamtlich, sieben Tage die Woche. Vom Marktplatz geht sie nun los, die Ludwigstraße entlang, bleibt jedoch schon nach wenigen Metern stehen. Lorenzo* hat ihren Weg gekreuzt, ein älterer Mann mit dünnen Armen. Er wirkt bedrückt, murmelt etwas, eine Träne rollt über sein Gesicht. Petra fragt, ob er bei der Leitung des Darmstädter Männerwohnheims Z14 gewesen sei. Er müsse dort die Verlängerung für seinen Aufenthalt beantragen. Lorenzo weint – er hat Angst, nicht bleiben zu dürfen. “Ich ruf nachher an und regel das”, erklärt ihm Petra. “Du wirst da bleiben. Mach dir keine Gedanken.”
Die Lücken im System füllen
Es geht weiter. Petra kennt sie fast alle, die Menschen, die in Darmstadt auf der Straße leben. Sie haben ihr ihre Geschichten erzählt. Wie Lorenzo, der den Tod seines Bruders und seiner Frau nicht verkraften konnte und nun ohne Wohnung dasteht. Am Ludwigsplatz angekommen, begrüßt sie die Männer, die am alten McDonald’s ihre Schlafsäcke ausgebreitet haben. Sie verteilt Getränke und Klamotten und verschafft sich einen Überblick. Viele der Menschen, mit denen sie in Kontakt ist, haben ihre Nummer und können sie 24/7 erreichen. Petra ist da. Durch ihre CRPS-Erkrankung, eine seltene Schmerzerkrankung, ist sie seit 18 Jahren berufsunfähig. Von ihrer Unterstützung für die Obdachlosen hält sie das jedoch nicht ab. Im November gründete sie ihren Verein “aus der Not”, um die Arbeit besser organisieren zu können. Ihr Ehrenamt könne sie sich frei einteilen und Pausen machen, wenn sie es braucht. Gar nicht so leicht, wenn regelmäßig jemand anruft oder einem die Schicksale der Menschen im Kopf herumspuken. Hilfe bekommt sie von ihrem Mann und ihrer Schwester, die als Krankenschwester oft die Wundversorgung von Obdachlosen in Not übernimmt. “Ohne meine Familie würde ich das nicht schaffen.” Sie möchte die Lücken im System füllen, erklärt sie und erzählt, dass obdachlose Menschen oft übersehen oder abgewiesen würden. Auch Vorurteile gegenüber Menschen auf der Straße würden dabei eine Rolle spielen. “Du kannst es nicht verallgemeinern, du musst immer den Menschen sehen.” Dass das Betteln durch Ansprechen nun verboten ist, sieht sie kritisch. “Im Prinzip leiden jetzt wieder die, die in unserem System an unterster Stelle stehen.”
“Mir ist es jeder Mensch wert, dass ich für ihn kämpfe”
Am Ludwigsplatz stößt Benjamin zur Gruppe, in der Hand hält er eine Leinwand. “Er ist ein begnadeter Künstler”, erklärt Petra. Das Bild ist ein Geschenk für sie. Benjamin erzählt, dass er selbst über fünf Jahre lang obdachlos war. Auch er findet die neue Verordnung falsch. “In einem respektvollen Rahmen sollte es toleriert sein”, sagt er. Für ihn gehe das Verbot “gegen alle Grundrechte”. Es geht weiter zum Luisenplatz, auch hier kennt Petra die Leute, die am Fuße des langen Lui sitzen und sich unterhalten. Einer von ihnen ist Basti. Er könne verstehen, wenn sich Leute bedrängt fühlen, wenn sie am Supermarkt oder an Geldautomaten von Leuten um ein paar Euro gebeten werden. Trotzdem blickt auch er kritisch auf das neue Verbot. Wie es den obdachlosen Menschen wirklich gehe, würden die Politiker:innen nicht wissen. “Die fragen nicht nach, die interessiert das nicht.” Dieses Klima durchbricht Petra mit ihrem blauen Wagen und den Fragen auf der Zunge, die sonst nur selten jemand stellt. “Wie geht es dir?”, “Was brauchst du?”. Über die Zeit hat sie sich Vertrauen erarbeitet. Ihre Haltung bei ihrer Arbeit ist so einfach wie deutlich: “Mir ist es jeder Mensch wert, dass ich für ihn kämpfe.”
Teil 2: Die Politik
566.800 Menschen in Deutschland sind aktuell wohnungslos. So steht es auf dem Zettel, den Sebastian Hofbauer herüberreicht. Einer von vielen in seinem Ordner. Ein Stapel voller Zahlen, Statistiken, Diagramme – ein Stapel voller Schicksale.
“Es gibt bundesweit eine gestiegene Anzahl von wohnungslosen Menschen. Das liegt auch – aber selbstverständlich nicht ausschließlich – daran, dass in den letzten zehn Jahren mehr Menschen zugewandert sind”, erklärt Hofbauer, der seit neun Jahren beim Horizont e.V. arbeitet. Der Verein leitet und betreut als Dienstleister für die Stadt Darmstadt Unterkünfte für wohnungslose Menschen. Wohnungslosigkeit bedeutet nicht zwingend, obdachlos zu sein. Wem die WG gekündigt wird und wer die Zeit der Wohnungssuche auf der Couch von Freund:innen verbringt, der ist wohnungslos – trotz Dach über dem Kopf. Der Zahlen-Zettel von Sebastian Hofbauer fasst zusammen: Von allen wohnungslosen Menschen in Deutschland leben etwa 50 Tausend auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Der Großteil ist dagegen in Einrichtungen der Kommunen oder der freien Wohlfahrtspflege untergebracht oder wohnt bei Freund:innen oder Angehörigen.
Bürokratie und ein überlastetes System
Dass es diese konkreten Zahlen gibt, ist nicht selbstverständlich. Erst 2020 wurde eine amtlich und bundesweit einheitliche Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen beschlossen. Jahrzehntelang wusste die deutsche Regierung also nicht genau, wie viele ihrer Bürger:innen ohne festen Wohnsitz den Alltag bestreiten. Die Ampelregierung wollte das ändern und die Wohnungslosigkeit gleich mit überwinden. Mit dem “Nationalen Aktionsplan” der Bundesregierung soll bis 2030 niemand mehr in Deutschland ohne Wohnung leben müssen. Sebastian Hofbauer sieht die Erreichung dieses Ziels kritisch. In seinem Arbeitsalltag beginnen die Baustellen schon lange bevor ein möglicher Mietvertrag in Sicht ist, zum Beispiel beim Organisieren von Unterlagen oder der Suche nach einem Therapieplatz. “Es gibt einfach Menschen, die brauchen bei sowas Unterstützung und Unterstützungsangebote sind eher rar. Die Hilfesysteme sind sehr bürokratisch und mitunter überlastet. Psychiatrien schreiben einen Brandbrief nach dem anderen. Das ist echt ein großes Problem.” Bürokratie herunterfahren, psychologische Unterstützung erleichtern und dann noch jedem eine Wohnung bereitstellen? “Wir sind weit davon entfernt”, sagt Hofbauer.
“Die Stadt ist halt nicht für alle da”
Wenn einem alle Türen verschlossen bleiben, ist das Betteln um Geld für manche die letzte Option. “Ich glaube, man muss sich mal in diese Lage versetzen. Was treibt den Menschen dazu, sich mitten in der Öffentlichkeit auf die Straße zu setzen und zu betteln? Abgesehen vielleicht von jugendlichen Punkern macht das wohl niemand freiwillig, weil es so eine tolle und leichte Art ist, an Geld zu kommen.” Dass es anscheinend viele Menschen gibt, die sich von bettelnden Personen gestört fühlen, überrascht Hofbauer nicht, genauso wenig wie das neue Verbot. “Die Stadt ist halt nicht für alle da, die Armen sollen woanders hingehen. Das ist schon immer ein Thema, eine gesellschaftliche Aushandlung. Man verbietet das Unangenehme, statt Ursachen zu bekämpfen.”
Strukturelle Veränderung und mehr Solidarität
Diese Ursachen haben für ihn strukturellen Charakter. Von der oft zu hörenden Aussage “Es kann jeden treffen”, hält er wenig. “Es kann vielleicht jeden treffen, aber es trifft nicht jeden gleich hart. Für Menschen, die nicht so viele Ressourcen mitbringen oder vielleicht noch nie in ihrem Leben bekommen haben, wird es schnell schwierig. Ich meine, wir werden ja nicht alle gleich geboren.” Für Hofbauer steht im Mittelpunkt aller Veränderung die Frage nach bezahlbarem Wohnraum. “Da hängt so viel dran und es muss wirklich etwas passieren. Man könnte zum Beispiel Wohnen zum Menschenrecht erklären. Das fände ich ganz wichtig.” Zusätzlich wünsche er sich eine größere Solidarität in der Gesellschaft. “Es wäre schön, gemeinsam mehr auf soziale Ungleichheit zu achten und zu versuchen, diese abzubauen. Wir individualisieren halt alles. Jeder ist immer persönlich an allem selbst schuld. Aber selbst wenn – wir könnten es uns doch leisten, das auch einfach auszuhalten. Wir haben genug Geld, es scheitert an der Verteilung.”
Teil 3: Das Recht
Wenn zwei sich streiten, dann braucht es einen Vermittler. Einen, der auf das verweist, was am Ende des Tages entscheidet: Recht oder Unrecht? “Aus juristischer Sicht gilt als Grundlage die allgemeine Handlungsfreiheit”, sagt Wolfgang Hecker, Darmstädter Verfassungsrechtler. In der kleinen Kachel im Videocall sieht man ihn vor einem vollen Bücherregal sitzen. “Nach dieser Bestimmung kann sich jeder in Deutschland frei entfalten. Dazu gehört auch, andere Menschen ansprechen zu dürfen und um eine Unterstützung zu bitten.” Geht es nach Heckers Einschätzung, dann hat die Stadt Darmstadt mit ihrem neuen Verbot einen Fehler gemacht. Diese spricht in Ihrer Magistratsvorlage von einem “Recht auf ungestörtes Passieren”, doch so einfach sei es nicht. “Ja, ich habe ein Recht auf Fortbewegung, ich darf nicht von jemandem angehalten, festgehalten oder bedrängt werden. Aber ich bewege mich ja im sozialen “Verkehrsraum” und da gibt es unglaublich viele Beschränkungen.” Er könne es nicht verstehen, dass es bettelnden Personen nun verboten sei, andere anzusprechen. Schließlich gebe es auch andere Gruppen oder Personen, die Passant:innen auf ihrem Weg durch die Stadt unterbrechen dürfen, um nach dem Weg oder einer Spende für den eigenen Verein zu fragen.
Ein Verbot darf nicht nur der Verwaltung dienen
Bis zur neuen Verordnung war in Darmstadt nur das sogenannte „aggressive Betteln“ verboten. In einem Beitrag der Hessenschau sagt Ordnungsdezernent Paul Wandrey: “Die Nachweisführung war relativ kompliziert, man musste sehr viel aktiv beobachten und jetzt mit der klaren Regelung haben wir Möglichkeiten, direkt einzuschreiten und können Situationen auch wesentlich klarer erfassen.” Dazu findet Wolfgang Hecker klare Worte: “In vielen Fällen müssen sensible Abgrenzungen stattfinden. Nur deswegen können wir aber nicht sagen: ‘Dann regeln wir es einfach mit einer weitreichenden Verbotsregelung’. Die Grundform der Juristen lautet: Solche verstärkten Grundrechtseingriffe sind nicht zulässig, nur um der Verwaltungserleichterung zu dienen.” In ihrer Antwortmail schreibt die Stadt, es habe einen “angemessenen Ausgleich” gebraucht: Zwischen der Kritik von Passant:innen und Geschäftsleuten auf der einen und bettelnden Personen auf der anderen Seite. Die nun umgesetzte Regel erfülle diesen Ausgleich „vortrefflich“. Es stellt sich die Frage, welche der beiden Seiten für diese Bewertung gefragt wurde.
Und nun?
Sollte eine bettelnde Person das neue Verbot als nicht ganz so “vortrefflich” befinden wie die Stadt, dann müsste sie klagen. Wie ein Echo klingt da die Aufzählung von Sebastian Hofbauer im Kopf. “Die Hilfesysteme sind sehr bürokratisch und mitunter überlastet. Psychiatrien schreiben einen Brandbrief nach dem anderen.” Sich neben der Suche nach einem Job, einer Wohnung und einem Therapieplatz auch noch um eine Klage kümmern? Dafür bräuchte es wohl Unterstützung von außen. Wie zum Beispiel in Hamburg. Dort klagte in diesem Jahr eine Person gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und der Straßenzeitung Hinz&Kunzt gegen das Bettelverbot in der S-Bahn. Bis so etwas in Darmstadt der Fall sein wird, kann es dauern. Vielleicht wird es nie geschehen. Doch selbst wenn die Frage nach ein paar Euro nun verstummt – der Bedarf an Geld, an Wohnungen, an Unterstützung, hallt auch ohne Worte durch Darmstadts Straßen.



