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In einem See vor unserer Zeit

von Andreas Cevatli (25.09.2024)

Gleich kreischt die Kettensäge ein ohrenbetäubendes Lied. In der Grube Messel suchen zwei Forscher nach einer Vergangenheit, die sich im Boden versteckt hält. Die Paläontologen tragen Bergstiefel und Gehörschutz, eine inoffiziöse Messel-Kluft. Ihre Füße verankern sie im Sediment; für ihr Vorhaben brauchen sie schließlich festen Stand. Der eine nickt dem anderen zu, woraufhin der sein Standbein wechselt und das Werkzeug ansetzt. An dieser Stelle, ja gleich dort, an der Kante scheint es gut zu sein. Er senkt die Säge und fräst in den Ölschiefer hinein. 

Illustration: Margo Sibel Koneberg

Der Arbeitsplatz der beiden Wissenschaftler ist die Grube Messel. Sie liegt nur wenige Kilometer von Darmstadt entfernt, unmittelbar vor den Toren des heutigen Odenwalds. Im Eozän, dem „Zeitalter der Morgenröte“, also vor rund 48 Millionen Jahren, hätten die Forscher allerdings nicht auf dem Felsplateau stehen können, sie hätten schwimmen müssen. Denn der mittlerweile rund sechzig Meter tiefe Krater war seinerzeit ein See. Ein ausbrechender Maarvulkan hatte ein artenreiches Biotop geschaffen. Genau hier, inmitten des heutigen Rhein-Main-Gebiets, war das Klima subtropisch, die Natur eine gänzlich andere. Nach dem fünften großen Massensterben des Planeten lösten fortan Säugetiere die Dinosaurier ab.   

„Die Qualität der Fossilien ist enorm“
Ein derartiges Gewässer zog freilich allerlei Lebensformen an. In Messel gehörten dazu auch die sogenannten Urpferdchen. Einige Arten waren schäferhundgroß, die kleineren kompakt wie Dackel, mit kurzen Beinen und ganz ohne Mähne. Das braune Fell des Propalaeotherium voigti diente als herrlich praktische Tarnung, im Pflanzenwuchs eines solchen Dschungels blendete es so in die Umgebung ein. An den See trieb sie wahrscheinlich der Durst. Womöglich war dort allerdings das Ufer glatt, möglicherweise schnappte sie auch ein Krokodil. „So ganz genau kann man das nicht sagen“, sagt der Paläontologe Pascal Schmitz. Gewiss sei jedenfalls ihr Ende im See. Wenn Schmitz nicht selbst forscht oder gräbt, führt er Besuchergruppen um und durch die Grube. Für ihn sei dieser Ort etwas „ganz Besonderes“, denn nur wenige Orte seien so gut in der „Fossilisation“, dem Konservieren biologischer Überbleibsel. In vielen anderen Grabungsstätten weltweit werden üblicherweise nur einzelne Zähne oder Fragmente von Skeletten gefunden – in Messel ist das mitnichten so. Das sei den Algen des ehemaligen Sees zu verdanken. Seinerzeit wuchsen sie im Wasser. Schließlich sanken sie hinab auf den Grund. Durch sie habe sich in Messel die seltene „Weichteilerhaltung“ vollzogen. Ja selbst die Mageninhalte der Tiere blieben über die Zeit hinweg intakt.

„Die Qualität und Quantität der Fossilien ist hier enorm.“ Jedes Jahr fänden sie hier im Boden mehrere tausend Stücke. Schimmernde Käfer in blau-grünen Rüstungen aus Chitin. Auch riesige Flugameisen mit Flügelspannweiten handelsüblicher Lineale. „Die größte Ameisenkönigin der Welt“ sei hier geborgen worden, sagt Schmitz, all das liege hier im Gestein. Die Vergangenheit sei hier noch im wahrsten Sinne des Wortes greifbar.

Die beiden Forscher haben den Schnitt in das Sediment mittlerweile gesetzt, ein ganzer Gesteinsblock wird so herausgelöst, hernach transportieren die Wissenschaftler ihn zu einem nur einen Steinwurf entfernten Sonnensegel, ihrer Forschungsstation. Das Ölgestein, sagt Schmitz, vertrage keine Sonne. „Es wird schnell brüchig und zerbröselt.“ Deshalb legen die beiden anderen Forscher die einzelnen Schichten zusätzlich noch in ein Bad aus Wasser und Glycerin ein. Die fragilen Sedimentschichten können so geschützt werden.

Mit feinen Messern heben die Forscher dort den millimeterdünnen Schieferstein vorsichtig um, blättern immer eine Seite nach der Nächsten um, ganz so, als würden sie ein Buch lesen. Durch diese Technik fanden sie bereits über siebzig Urpferdchen. Und Schmitz ist sich sicher: „Vermutlich werden es noch mehr.“

Derlei Fossilienfunde aus dem einstmaligen See, der seit 1995 UNESCO-Weltkulturerbe ist, ermöglichen gar die präzise Rekonstruktion komplexer Tier- und Pflanzenwelten. „Wir konnten hier eine Schlange finden, die eine Echse gefressen hatte, die in ihrem Magen noch einen Käfer hatte.“ Ein solcher „three-in-one“ wurde weltweit bislang erst ein einziges Mal festgestellt.

Auch wegen solcherlei Funden trage die Grube Messel „wie keine andere“ Stätte dazu bei, „das Eozän zu verstehen“, schreibt die UNESCO. Und wenn auch nicht immer von solcher Besonderheit, kommen doch jedes Jahr etwa dreitausend weitere Fossilien hinzu, die man dem See abringt. Nicht immer sind das ikonische Urpferdchen, noch nicht einmal immer Säugetiere. Manchmal seien es auch nur Pflanzen oder deren Blätter. Doch steckt hier eine seltsam artenreiche Vergangenheit im Stein. Und je tiefer die Forscher graben, umso weiter geht es zurück in der Zeit.

Hinweis der Redaktion: 
Habt ihr Lust, euch selbst ein Bild zu machen? Hier findet ihr alles rund um Besuchszeiten und Führungen in der Grube Messel: https://www.grube-messel.de/ 

English version (automated translation):

In a lake before our time

by Andreas Cevatli (25.09.2024)

Soon, the chainsaw will screech its deafening song. In the Messel Pit, two researchers are searching for a past hidden in the ground. The paleontologists are wearing hiking boots and ear protection, the unofficial Messel uniform. Their feet are anchored in the sediment; after all, they need a solid footing for their work. One nods to the other, who shifts his weight to the other leg and sets the tool in place. Right here, yes, right there at the edge seems good. He lowers the saw and cuts into the oil shale.

illustration: Margo Sibel Koneberg

The workplace of the two scientists is the Messel Pit. It lies just a few kilometers from Darmstadt, right on the doorstep of today’s Odenwald forest. In the Eocene, the “dawn age,” around 48 million years ago, the researchers wouldn’t have been able to stand on this rocky plateau—they would have had to swim. For at that time, the now 60-meter deep crater was a lake. An erupting maar volcano had created a rich biotope. Right here, in the middle of today’s Rhine-Main region, the climate was subtropical, and nature was entirely different. After the planet’s fifth great mass extinction, mammals began to replace dinosaurs.

“The quality of the fossils is enormous”
Such a body of water naturally attracted all kinds of life forms. In Messel, this included the so-called dawn horses. Some species were the size of a German shepherd, while the smaller ones were compact like dachshunds, with short legs and no mane. The brown coat of Propalaeotherium voigti served as wonderfully effective camouflage, blending into the dense jungle vegetation. Likely, they were driven to the lake by thirst. Perhaps the shore was slippery, or maybe a crocodile caught them. “It’s hard to say for sure,” says paleontologist Pascal Schmitz. What is certain, however, is their fate in the lake. When Schmitz is not conducting research or digging, he leads tour groups around and through the pit. To him, this place is “something truly special,” as very few places are so proficient in fossilization—the preservation of biological remains. At many other excavation sites worldwide, only isolated teeth or skeletal fragments are usually found—but not in Messel. This is thanks to the algae that once grew in the lake. Over time, they sank to the bottom. Because of them, the rare “soft tissue preservation” occurred in Messel. Even the stomach contents of the animals have remained intact over time.

“The quality and quantity of the fossils here are enormous.” Every year, they find several thousand specimens in the ground here. Shimmering beetles in blue-green chitin armor. Also, huge flying ants with wingspans the size of standard rulers. “The world’s largest ant queen” was discovered here, Schmitz says; all of this lies here in the rock. The past is still quite literally tangible here.

The two researchers have now made the cut into the sediment, dislodging an entire block of rock, which they then transport to a sunshade nearby—their research station. Schmitz explains that the oil shale cannot tolerate sunlight. “It becomes brittle and crumbles quickly.” That’s why the other two researchers place the individual layers in a bath of water and glycerin. This protects the fragile sediment layers.

With fine knives, the researchers carefully peel back the millimeter-thin shale stone, turning one side after another, much like reading a book. Using this technique, they have already found over seventy dawn horses. And Schmitz is sure: “There are probably even more.”

Such fossil finds from the former lake, which has been a UNESCO World Heritage site since 1995, enable the precise reconstruction of complex animal and plant ecosystems. “We found a snake here that had eaten a lizard, which had a beetle in its stomach.” This “three-in-one” find has only been recorded once worldwide.

Because of such finds, the Messel Pit contributes “like no other site” to understanding the Eocene, UNESCO writes. And while not every find is as remarkable, around three thousand more fossils are extracted from the lake every year. Not always iconic dawn horses, and not always even mammals. Sometimes they are just plants or their leaves. Yet a strangely diverse past is embedded in the stone here. And the deeper the researchers dig, the further back in time they go.

Editor’s Note:
Are you interested in seeing it for yourself? Here you can find all the information about visiting hours and guided tours at the Messel Pit: https://www.grube-messel.de/.

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