Neuanfang: Ein Piefke in Graz
von Stay Eller (29.05.2024)
Nach etwa zwölf Stunden Zugfahrt durch halb Deutschland und dann durch die Alpen in Österreich erreichte ich Ende Februar den Hauptbahnhof in Graz – die Stadt, die für die nächsten Monate mein Zuhause werden sollte. Ein neues Kapitel, Auslandssemester abseits von Asbest und tropfenden Decken am Dieburger Campus. Doch was lediglich als kleines Zwischenkapitel geplant war, ist nun so viel größer geworden.
Illustration: Margo Sibel Koneberg
“Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne”, so schrieb schon Hermann Hesse in seinem Gedicht “Stufen”. Mein Neuanfang in Österreich begann passenderweise auch mit Stufen, raus aus dem Grazer Bahnhof auf den Vorplatz des Gebäudes. Nun war ich also endlich angekommen, nach einer schier endlos erscheinenden Zugfahrt, dem ganzen Erasmus-Papierkram und der verzweifelten Suche nach einer Wohnung. Am Ende hatte nun doch alles geklappt, ich stand an einem sonnigen Nachmittag im Februar mitten in der steirischen Metropole und freute mich wie ein Kind an Weihnachten. Doch zur Freude mischte sich auch ganz unterschwellig dieses Gefühl von Unsicherheit, fast schon Angst. Was wird mich hier erwarten, wie werde ich mich zurechtfinden?
Am Bahnhof fand ich mich direkt schon mal gar nicht zurecht – ob es an der Nervosität oder dem gewaltigen Schlafmangel gelegen hat, kann ich heute nicht mehr sagen. Jedoch fand ich die Haltestellen der Straßenbahnen einfach nicht. Als ich dann eine junge Person ansprach und nach dem Weg fragte, sollte das nicht nur meine Orientierungs-Rettung sein, sondern direkt auch schon Lektion Eins: Österreichischer Dialekt. Auf meine Frage, wo denn genau die Trams hier abfahren, folgte nämlich erst mal ein ratloser Gesichtsausdruck, dann die Erkenntnis mitsamt Belehrung: “Ah, du maanst die Bim? Des is do drübn. Und des haßt Bim hier, is wichtig.”
Ein leises Gefühl von Heimat
Lektion Zwei sollte dann gleich wenige Stunden später erfolgen, als ich mich zum ersten Mal aufmachte, um die Stadt zu erkunden. Abgelenkt von den vielen Eindrücken, die mir die wunderschöne Altstadt von Graz bot, welche übrigens seit 1999 UNESCO Weltkulturerbe ist, lief ich etwas gedankenverloren fast vor eine herannahende besagte “Bim”. Dies erzürnte den Bimfahrer so sehr, dass er neben mir hielt, das Fenster öffnete und verständnislos zu mir herab blickte mit den Worten “Ah ge oida, bisd deppert oder wos?!” Ironischerweise war es diese Ruppigkeit und Wortwahl, die zum ersten Mal ein leises Gefühl von Heimat bei mir aufkommen ließ. Denn ich bin in Bayern aufgewachsen, direkt an der Grenze zu Österreich. Und jede:r gebürtige Bayer:in würde mir wohl direkt zustimmen, wenn ich sage, dass dies genau so auch im Freistaat hätte passieren können.
Damit will ich aber nicht sagen, dass Österreich genau wie Bayern ist. Zugegeben, die Ähnlichkeiten in Sprache und Tradition sind wohl zwischen den beiden größer als zwischen Bayern und jedem anderen deutschen Bundesland. Doch die Unterschiede sind größer als man denkt. Besonders die Herzlichkeit und Lockerheit der Österreicherinnen und Österreicher sticht hervor. Das wurde mir an meinem ersten Tag an der FH Joanneum in Graz bewusst.
Die neue Uni
Ich kam fünf Minuten vor Beginn meiner ersten Lehrveranstaltung an. In Deutschland wäre ich fast zu spät gewesen. Doch in Graz? Kein anderer Studierender, kein Professor war zu sehen. Erst zehn Minuten später trudelte der Professor ein, die Studierenden folgten nach und nach. Meine Sorge, keinen Anschluss zu finden, löste sich schnell in Luft auf. Die Studierenden nahmen mich sofort in ihre Mitte auf, fragten nach meiner Geschichte und luden mich zu Veranstaltungen ein. Auch der Professor, den alle beim Vornamen nennen, strahlte eine solche Lockerheit aus, dass ich mich sofort wohl fühlte. Mein Neuanfang an der Hochschule war also ein voller Erfolg.
Das Studieren in Graz ist einfach großartig und macht so viel mehr Spaß als in Dieburg. Die Stadt hat eine lebendige studentische Atmosphäre und feiert die traditionelle österreichische Trinkkultur in vollen Zügen. Für mich als Student aus Darmstadt ist es wie im Paradies. Ein Highlight ist der Kaiser-Josef-Platz an der Oper, wo sich im Sommer junge Leute jeden Abend treffen, um bei Musik und mit Aperol oder einem Bier den Sonnenuntergang zu genießen. Regelmäßig gibt es außerdem die sogenannten “Spritzerstände”, Veranstaltungen an den verschiedenen Hochschulen, bei denen man für wenig Geld feiern, tanzen und sich betrinken kann. Die Österreicher sind sehr offen und es fällt leicht, mit anderen ins Gespräch zu kommen.
Ein Neuanfang der anderen Art
Ich habe Menschen aus ganz Österreich und anderen Ländern kennengelernt. Besonders für mich ist jedoch ein Österreicher, den ich bei einer dieser Veranstaltungen kennengelernt habe und der für einen Neuanfang der anderen Art gesorgt hat. Geplant war es nicht, dass ich mich während meines Auslandssemesters verlieben würde. Schon gar nicht in jemanden, der so weit von Darmstadt entfernt wohnt. Aber wie es so ist, ist das Leben voller Überraschungen und ungeplanter Wendungen, und diese hätte für mich nicht schöner sein können.
Doch zu sagen, dass alle Österreicher:innen so einladend und offen seien, wäre kein tatsächliches Abbild der Realität. Denn es ist leider so, dass man hier in Österreich, auch als Deutsche:r durchaus auf Ablehnung stoßen kann, wenn man nicht von hier ist. Generell ist das Bild der Deutschen in Österreich sehr interessant. Eine Studie zum österreichischen Deutschlandbild, welche von der Deutschen Botschaft in Wien in Auftrag gegeben wurde, zeigt, dass 78% der Befragten angeben, dass Deutsche anders ticken würden als Österreicherinnen und Österreicher. (Übrigens: nur 32% der Befragten sagen dies über die Bayern.) Die Adjektive, die man am ehesten mit uns Deutschen in Verbindung bringt, sind laut Studie „gründlich“, „verlässlich“ (70% aller Befragten), „freundlich“ und „direkt“ (60%), allerdings sehen uns 60% der Befragten auch als „rechthaberisch“. Besonders interessant ist aber der Aspekt, dass 75% der Befragten sich auch eine Partnerschaft mit einer Deutschen oder einem Deutschen vorstellen können – im Umkehrschluss bedeutet dies aber ja auch, dass sich 25% eine Partnerschaft mit jemandem nicht vorstellen können, wenn die Person deutscher Herkunft ist. Man stelle sich das vor: Jemand trifft die perfekte Person für sich, quasi sein Traum-Match, ist auf Anhieb verliebt – und dann sagt sie statt “Servus” leider “Guten Tag”. Scheinbar ein Albtraum-Szenario für ein Viertel der Österreicher:innen.
Schimpfen auf Österreichisch
Den Begriff “Piefke”, eine manchmal ironisch, manchmal aber auch ernsthaft beleidigend verwendete Bezeichnung für jemanden aus Deutschland, habe ich nun auch schon mehr als einmal gehört. Selten gegen mich gerichtet, wenn dann nur liebevoll. Abwertend aber oftmals gegen andere. Ein Freund von mir aus Darmstadt, der aktuell auch hier in Graz ist, wurde in einer Kneipe nicht bedient, nachdem er sein Bier mit deutschem Akzent bestellt hatte. Ein anderer deutscher Bekannter, der hier schon länger lebt, wurde offen beschimpft, als er sich durch seine Aussprache als Deutscher zu erkennen gegeben hat. Österreich ist kein Paradies, der Rechtsruck im Sinne der FPÖ ist auch hier mehr als spürbar.
Wenn ich dann aber abends durch die malerischen Gassen der Grazer Altstadt flaniere, vom Schlossberg aus über die Dächer der Stadt blicke, mit Freund:innen im Park faulenze, mit meinem Partner in einem Kaffeehaus sitze oder mit hunderten Fremden auf einem Straßenfest bei Sonnenuntergang zu Musik tanze – dann merke ich, dass Graz meiner persönlichen Vorstellung eines Paradieses trotz seiner negativen Aspekte schon ganz schön nah kommt. Dass dieser Ort hier mehr als eine Heimat auf Zeit ist, ich hier glücklich werden kann. Mein Neuanfang durch das Auslandssemester hat einen noch viel größeren Neuanfang eingeläutet. Eine Perspektive nach meinem Bachelorstudium eröffnet, welches ich nächstes Semester an der h_da abschließen werde. Ob mir im Vorhinein klar war, dass ich nach Österreich auswandern möchte? Sicher nicht. Doch jetzt könnte ich mir keinen schöneren Ort für die nächsten Jahre meines Lebens vorstellen als hier.
Neuanfänge sind auch immer mit Abschieden verbunden. Und so werde ich auch für den Neuanfang in Darmstadt wieder Abschied nehmen müssen von meinem geliebten Graz, meinen neuen Freund:innen hier und auch von meinem tollen Partner. Aber es wird kein Abschied von Dauer sein. Ich habe mein Herz hier verloren in Graz und eine Heimat gefunden, einen Ort, den ich endlich Zuhause nennen kann. Oder um es mit den Worten von Hermann Hesse in Stufen zu sagen: “Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe, bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben.”
English version (automated translation):
New Beginning: A Piefke in Graz
by Stay Eller (29.05.2024)
After about twelve hours of train travel through half of Germany and then through the Alps in Austria, I arrived at the main train station in Graz at the end of February – the city that was to become my home for the next few months. A new chapter, a semester abroad away from asbestos and dripping ceilings at the Dieburg campus. But what was merely planned as a small interim chapter has now become so much more.
illustration: Margo Sibel Koneberg
‘A magic dwells in each beginning,’ as Hermann Hesse wrote in his poem ‘Steps.’ Appropriately, my new beginning in Austria also started with steps, out of Graz train station onto the forecourt of the building. So here I was finally, after what felt like an endless train ride, all the Erasmus paperwork, and the desperate search for an apartment. In the end, everything had worked out, and on a sunny afternoon in February, I stood in the middle of the Styrian metropolis, as excited as a child at Christmas. Yet, mixed with my joy was a subtle feeling of uncertainty, almost fear. What would await me here? How would I find my way?
At the train station, I was immediately lost – whether it was due to nervousness or severe lack of sleep, I can’t say. I simply couldn’t find the tram stops. When I asked a young person for directions, it was not just my saving grace for orientation but also Lesson One: Austrian dialect. To my question about where the trams departed from, I was first met with a puzzled look, then the realization and a correction: ‘Ah, you mean the Bim? It’s over there. And it’s called Bim here, that’s important.’
A Subtle Feeling of Home
Lesson Two came just a few hours later when I set out to explore the city for the first time. Distracted by the many impressions offered by the beautiful old town of Graz, which has been a UNESCO World Heritage Site since 1999, I almost absent-mindedly walked in front of an oncoming ‚Bim.‘ This angered the Bim driver so much that he stopped next to me, opened the window, and looked down at me in bewilderment, saying, ‚Ah ge oida, bisd deppert oder wos?!‘ Ironically, it was this roughness and choice of words that first gave me a subtle feeling of home. After all, I grew up in Bavaria, right on the border with Austria. And any native Bavarian would probably agree with me when I say that this could have happened exactly the same way in the Free State.
However, I do not mean to say that Austria is just like Bavaria. Admittedly, the similarities in language and tradition between the two are probably greater than between Bavaria and any other German state. But the differences are more significant than one might think. Particularly, the warmth and laid-back nature of Austrians stand out. This became clear to me on my first day at FH Joanneum in Graz.
The New University
I arrived five minutes before my first class was supposed to start. In Germany, I would have been almost late. But in Graz? No other students or professors were in sight. It wasn’t until ten minutes later that the professor strolled in, followed by the students trickling in gradually. My worry about not fitting in quickly dissipated. The students immediately welcomed me, asked about my story, and invited me to events. Even the professor, whom everyone called by his first name, exuded such a relaxed demeanor that I felt comfortable right away. My new beginning at the university was therefore a complete success.
Studying in Graz is simply fantastic and much more enjoyable than in Dieburg. The city has a vibrant student atmosphere and fully embraces the traditional Austrian drinking culture. For me, a student from Darmstadt, it’s like paradise. A highlight is Kaiser-Josef-Platz at the opera house, where young people gather every evening in the summer to enjoy the sunset with music and Aperol or beer. There are also regular events known as „Spritzerstände,“ held at various universities, where you can party, dance, and drink cheaply. The Austrians are very open, and it’s easy to strike up conversations with others.
A New Beginning of a Different Kind
I have met people from all over Austria and other countries. However, one Austrian I met at one of these events is particularly special to me and has brought about a new beginning of a different kind. It wasn’t planned that I would fall in love during my semester abroad. Certainly not with someone who lives so far from Darmstadt. But as it happens, life is full of surprises and unplanned turns, and this one couldn’t have been more beautiful for me.
However, to say that all Austrians are so welcoming and open would not be an accurate reflection of reality. Unfortunately, it is the case that here in Austria, even as a German, one can encounter rejection if they are not from here. Generally, the image of Germans in Austria is very interesting. A study on the Austrian view of Germany, commissioned by the German Embassy in Vienna, shows that 78% of respondents believe that Germans tick differently than Austrians. (By the way, only 32% of respondents say this about Bavarians.) The adjectives most commonly associated with us Germans, according to the study, are „thorough“ and „reliable“ (70% of all respondents), „friendly“ and „direct“ (60%), but 60% of respondents also see us as „know-it-alls.“ Particularly interesting is the aspect that 75% of respondents can imagine a relationship with a German – but conversely, this also means that 25% cannot imagine a relationship with someone of German origin. Imagine this: someone meets the perfect person for them, their dream match, falls in love immediately – and then, instead of saying „Servus,“ they unfortunately say „Guten Tag.“ Apparently, a nightmare scenario for a quarter of Austrians.
Complaining in Austrian
The term “Piefke,” sometimes used ironically and sometimes as a serious insult for someone from Germany, is something I’ve heard more than once. Rarely directed at me, and if so, only affectionately. But often derogatorily toward others. A friend of mine from Darmstadt, who is also here in Graz, wasn’t served in a pub after ordering his beer with a German accent. Another German acquaintance, who has been living here longer, was openly insulted when his accent revealed his German origin. Austria is no paradise; the rightward shift represented by the FPÖ is more than palpable here.
However, when I stroll through the picturesque alleys of Graz’s old town in the evening, gaze over the city’s rooftops from the Schlossberg, lounge in the park with friends, sit in a coffee house with my partner, or dance to music at a street festival at sunset with hundreds of strangers – then I realize that Graz comes pretty close to my personal idea of paradise despite its negative aspects. This place is more than a temporary home; I can be happy here. My new beginning through the semester abroad has heralded an even bigger new beginning. It has opened up a perspective for after my bachelor’s degree, which I will complete next semester at h_da. Was it clear to me beforehand that I wanted to move to Austria? Certainly not. But now I couldn’t imagine a more beautiful place for the next few years of my life than here.
New beginnings are always accompanied by farewells. So, for the new beginning in Darmstadt, I will have to say goodbye again to my beloved Graz, my new friends here, and also my wonderful partner. But it won’t be a farewell forever. I have lost my heart here in Graz and found a home, a place I can finally call home. Or, to put it in the words of Hermann Hesse in his poem „Stufen“: “Be ready at every call of life to take your leave and to begin anew, with courage and without grief, to give yourself to other, new ties.”
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