„Niemand wird freiwillig ein Junkie“
Interview von Christoph Pfeiffer
Rund 263 000 Menschen sind in Deutschland wohnungslos. Dazu gehören Personen, die in Unterkünften untergebracht sind, die verdeckt wohnungslos sind oder solche, die ohne Unterkunft wohnungslos sind. Gut 300 dieser Personen leben in Darmstadt. Daniel Rottach kennt viele von ihnen – mittlerweile gehört er zur Einrichtungsleitung der „Scentral Drogenhilfe“. Im Streetwork tätig, unterstützt er mit seinem Team Menschen in Darmstadt, die in prekären Lebenssituationen stecken. Ein Interview.
Wie bist du zum Streetwork gekommen?
Daniel: Ich habe angefangen, Soziale Arbeit zu studieren und bin auf der Suche nach einem Praktikum in der Wohnungslosenhilfe gelandet. Nach eineinhalb Jahren habe ich eine Streetworkerin kennengelernt, die die damalige Punkerszene in Darmstadt betreut hat. Das waren die ersten Kontakte. Der Leiter der Drogenhilfe ist dann auf mich zugekommen und fragte, ob ich nicht bei ihm arbeiten wolle. So bin ich dann zum Streetwork gewechselt.
Gibt es im Streetwork einen normalen Arbeitsalltag?
Daniel: Einen klassischen Alltag gibt es nicht. Die Flexibilität ist für mich auch der Reiz vom Streetwork. Wir sind im Tagesverlauf zu Fuß in der Innenstadt unterwegs und versuchen dann direkt, Vermittlungsarbeit zu leisten. Abends sind wir mit dem Streetwork-Bus unterwegs und verteilen Essen, Getränke, Konsumutensilien oder Kondome. Wir kennen die Ecken und Plätze, an denen sich Personen aufhalten, die aus dem Wohnungslosen- oder Drogenmilieu kommen und gehen die regelmäßig an.
Wie läuft eine Kontaktaufnahme auf der Straße ab?
Daniel: Jede*r hat sein eigenes Muster. Meins ist, mich einfach vorzustellen und zu sagen, was ich tue. Dann gibt es eine Resonanz. Ich hatte schon Menschen, die sich sehr gefreut haben. Andere haben schlechte Erfahrungen mit Sozialarbeiter*innen gemacht, die waren dann pampig. Wichtig ist, immer auf Augenhöhe zu sein und nicht von oben herab. Ich mach’s so, wenn jemand da sitzt und bettelt, dann knie ich mich so weit runter, dass ich physisch auf Augenhöhe bin.
Was machst du, wenn die Kontaktaufnahme nicht funktioniert?
Daniel: Wir sind nie offensiv. Das heißt, wenn ich weiß, wo diese Person lagert, dann fahre ich dorthin und biete erstmal einen Kaffee an. Über den Kaffee baut sich dann vielleicht ein Gespräch auf. Wenn es bei mir dann nicht klappt, dann probiert es nochmal die Kollegin. Oft gehen wir auch ohne Diakonielogo, ganz normal zu den Leuten hin, dann ist dann nochmal neutraler.
Was ist wichtig für gute Beziehungsarbeit?
Daniel: Verlässlichkeit. Wir leisten kleinteilige Beziehungsarbeit und das kann sehr lange dauern. Dann muss die Verlässlichkeit da sein, damit die Menschen nicht den Kontakt abbrechen. In der Drogenszene gibt es keine Verlässlichkeit. Menschen nehmen sich gegenseitig Dinge ab. Der Bedarf ist hoch und Konsum kostet Geld. Wenn der Kumpel neben mir gerade schläft und einen 10-Euro-Schein einstecken hat, dann klaue ich den. Ich brauche den dringender. Das ist diese Szenedynamik.
Welches Selbstbild haben die Menschen, die du betreust?
Daniel: Wenn Leute über Jahre in prekären Lebenslagen unterwegs sind, neigen sie dazu, das Bild der Gesellschaft zu adaptieren. Es gibt das Bild von Wohnungslosen, die den ganzen Tag saufen. Das wird dann adaptiert, dass man wirklich den ganzen Tag säuft. Drogengebrauchende Menschen bezeichnen sich selbst als „Junkies“, obwohl das ein sehr stigmatisierender Begriff ist. Viele wünschen sich mehr Normalität, haben aber die Einsicht, dass sie aufgrund der Lebensumstände da nicht reinfinden werden. Das führt zu einer Parallelgesellschaft, in der eigene Regeln gelten.
Nimmst du ein persönliches Schicksal auch mal mit nach Hause?
Daniel: Das sollte tunlichst nicht passieren. Wir erleben mitunter sehr viel Elend. Es gibt Situationen, in denen wir jemanden aus einer Überdosierung zurückholen müssen. Eine Wiederbelebung ist schon eine Situation, die mal einen Abend nachhallt. Was länger nachhallt sind Leichenfunde. Es kommt nicht so oft vor, aber es kommt vor. In der Summe haben wir sehr viel mit Leid, Tod, Kriminalität und Gewalt zu tun. Wenn man das alles nicht gut dalassen kann, dann geht man, meines Erachtens nach, selber kaputt.
Was läuft bei der Straßenarbeit in Darmstadt gut und was läuft eher schlecht?
Daniel: Was sehr gut ist, ist unsere personelle Besetzung. Dazu kommt, dass wir einen großen Streetwork-Bus haben und zwei E-Lastenräder. Was auch gut läuft, ist die Kooperation mit Polizei und Ordnungsamt. Bevor die Polizei Kontrollen durchführt oder das Ordnungsamt Obdachlosenlager räumt, sprechen die oft mit uns und wir versuchen das dann zu klären. Negatives fällt mir nicht ein.
Über die Jahre hinweg verändern sich die Drogen, die im Umlauf sind. Haben sich die Menschen auf der Straße dadurch auch verändert?
Daniel: Tatsächlich gab es in den letzten Jahren einen Wandel. Viele konsumieren quer durch die Bandbreite. Das Wirkungsziel ist bei uns oft Energie. Zum Beispiel Crack, Kokain oder Speed. Oder anders: Ruhe und runter. Heroin, Methadon, Fentanyl. Oft tagsüber hoch „basen“ mit Crack und abends runterkommen mit Heroin oder Cannabis.
Wünscht du dir in der Öffentlichkeit eine breitere Berichterstattung und eine größere Sensibilisierung der Gesellschaft gegenüber sozial schwachen Personen?
Daniel: Ja. In der Gesamtgesellschaft gibt es noch Bilder, die den Konsumierenden als Verbrecher*innen und ansteckende Menschen beschreiben. Dass die Hygiene nicht die beste ist, wenn man sich eher um die Drogen, als um sich selbst kümmert, ist klar. Es sind einfach Menschen, die ein Krankheitsbild vorweisen. 90 Prozent der Leute hatten einfach eine totale beschissene Kindheit, mit Gewalt, mit sexuellem Missbrauch, mit Sucht in der Familie. Das heißt, niemand wird freiwillig ein „Junkie“. Das sind Menschen, die der Einnahme von illegalen Substanzen unfreiwillig ausgeliefert sind. Die Sensibilisierung dafür, dass es stinknormale Menschen sind, aber mit besonderen Bedürfnissen, das macht den Umgang einfacher.
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