Note 5+ für das Gedenken am Femizid an Büşra
von Nina Schermal (13.11.2024)
Sie hätte meine Schwester, meine Freundin oder die Frau sein können, die neben mir in der Bahn sitzt – oder ich. Dieser Gedanke steht an diesem Tag über allem. Der Himmel ist grau, die Luft eisig. Studierende tummeln sich am Zentralcampus der Hochschule Darmstadt. Einige strömen ins Studierendenhaus, andere lachen. Und lediglich ein Bruchteil der insgesamt 13.500 Studierenden gedenkt vergangenen Mittwoch, am 6. November, ihr: Büşra G.
Illustration: Margo Sibel Koneberg
Vor 15 Jahren, am 10. November 2009, wurde sie von ihrem Ex-Partner im Computerraum des Fachbereichs Maschinenbau und Kunststofftechnik (FBMK) erstochen. Keine Beziehungstat, kein Einzelfall, sondern ein Femizid. Ein systematischer Mord an einer Frau, weil sie eine Frau war. Über Büşras Täter urteilte der Vorsitzende Richter am Landgericht Darmstadt, er habe sich “über sein Opfer erheben” wollen, habe sich nicht damit abgefunden, dass sie sich von ihm getrennt hatte, schreibt die Hessenschau.
Vergangenen Mittwoch fand dazu eine Gedenkveranstaltung für Büşra statt, organisiert vom neu gegründeten Forum Erinnerungskultur der h_da. Neben Redebeiträgen des Hochschulpräsidenten Prof. Dr. Arnd Steinmetz, schilderte auch Prof. Dr. Bernhard Schetter (FBMK) eindrucksvoll seine Erinnerungen an Büşra. Er war vor 15 Jahren im Prüfungsausschuss Mechatronik – und kannte sowohl Büşra als auch ihren späteren Mörder. “Wenn ich an sie denke, dann sehe ich eine kopftuchtragende Studentin, die den Kopf stets gesenkt hat”, beschreibt Schetter. Sie sei immer händchenhaltend mit ihrem Freund und späteren Täter am Campus zu sehen gewesen. Der Dozent berichtet von einer Einzelbesprechung, zu der Büşra mit dem Täter zusammen erschienen war. Obwohl Schetter gezielt Fragen an sie gerichtet stellte, antwortete die Studentin nicht. Stellvertretend für sie sprach stattdessen ihr damaliger Freund, der sie Monate später ermordete. Für Schetter sei die Unterhaltung mit dem Paar unangenehm gewesen. Auch Wochen danach, als er das Einzelgespräch mit ihrem Täter führte. Schetter erzählt vom Tag der Tat und davon, dass nach Büşras Tod ein “Meer aus Kerzen und Blumen” aufgestellt wurde – von Studierenden, “als persönliche Bezeugungen der Trauer und des Mitleids”.
Doch ein so aussagekräftiges Gedenken gab es am vergangenen Mittwoch nicht. Stattdessen: Eine knapp 45 minütige, läppisch organisiert wirkende “Gedenkstunde” (Mail vom 01. November). Die Tonqualität und auch die Lautstärke ließen zu wünschen übrig, insbesondere in den letzten Reihen. Geräusche von piepsenden Lieferwagen oder brummenden LKWs direkt um die Ecke ersetzten die fehlende Trauermusik. Das erschwerte es, den Redebeiträgen angemessen seine Aufmerksamkeit zu widmen. Keine Bühne oder Erhöhung für die Redner:innen, kein Trauergesteck oder gar ein Blumenstrauß. Von der Anzahl der Trauernden mal abzusehen.
Foto: Nina Schermal
Dass am Tag des Gedenkens nicht mindestens alle am betroffenen Fachbereich MK anwesenden Studierenden zusammenkamen, um Büşra zu gedenken, ist ernüchternd. Vor allem, wenn man die Anzahl der Teilnehmenden in Relation zu den Fotografen setzt. MK-Studierende berichten, sie wären gerne gekommen, doch hätten Pflichtveranstaltungen gehabt. In anderen Fachbereichen: Keine Rede vom Mord an Büşra, geschweige denn von der Gedenkveranstaltung am Hauptcampus in Darmstadt. Femizid an der Hochschule? Noch nie gehört. Gedenkveranstaltung? Nicht mitbekommen. Wie denn auch, wenn es nur eine einzige Mail zur Gedenkstunde gab – und das eine Woche vor der Veranstaltung. Kein Social Media Post, keine Projektion auf den Bildschirmen in der Hochschule. Anscheinend ist das Erinnern an Büşra an der h_da so wichtig, dass selbst das Dekanat des Fachbereichs MK davon nichts mitbekommen hat. Was auch immer die Erklärung für das Fehlen des betroffenen (!) Dekanats ist, eines steht fest: Das war ein Mittelfinger an alle Frauen des Fachbereichs MK, mit freundlichen Grüßen aus dem Dekanat – das übrigens aus den Bürofenstern direkt auf den Veranstaltungsort blicken konnte.
Geschlechtsspezifische Gewalt. Ein Thema, auf das es aufmerksam zu machen gilt. Noch viel mehr, wenn an der eigenen Hochschule vor 15 Jahren eine Studentin ermordet wurde. Von ihrem Ex-Partner, der ebenfalls Teil der Hochschule war. Hier hatte man 15 Jahre lang Zeit, einen Femizid aufzuarbeiten, präventiv auf Studierende zuzugehen und insbesondere auch männliche Studierende zu sensibilisieren. Aufzuklären. Stattdessen wird mehr als ein Jahrzehnt nach der Tat eine “erläuternde Gedenktafel” (Mail vom 01. November) im Innenhof des Fachbereichs Maschinenbau angebracht, die den zuvor etwas einsam dreinblickenden Gedenkbaum erklären soll. Kann man von Studierenden überhaupt erwarten, an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen, wenn selbst das Dekanat des betroffenen Fachbereichs es nicht für wichtig genug hält, Gesicht zu zeigen, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht?
Dass es auch anders geht, zeigen die ausdrucksstarken Redebeiträge von Sarah Vessali, selbst Studentin am Fachbereich MK, und Madeline Götz, Vorständin des Darmstädter Frauenhauses. Das fing damit an, dass zumindest die beiden Frauen den Namen der ermordeten Studentin richtig aussprachen: Büşra, nicht Büsra. Das “ş” wird wie ein “sch” ausgesprochen. Vessali betont, wie stolz sie auf jene jungen Frauen sei, die an der Hochschule studieren. Gerade am Fachbereich MK seien das nicht viele. Büşra hatte keine Schuld, betont Sarah Vessali, außer die Schuld eine Frau gewesen zu sein. “Femizide sind mehr als tragische Vorfälle”, sagte die 26-Jährige, “Sie sind Ausdruck von Missachtung, von Strukturen und Einstellungen, die Frauen und ihre Rechte immer noch nicht ausreichend schützen”. Dass es notwendig sei, Femizide auch als solche zu bezeichnen, ergänzte Madeline Götz. Benennt man Morde an Frauen konkret, lassen sich dazu auch Zahlen erheben. Zahlen des Bundeskriminalamts, die dafür sorgen, dass einem das Herz in die Hose rutscht, wenn man sie liest:
Jeden zweiten Tag wurde 2023 eine Frau durch ihren (Ex-)Partner getötet. Heißt: 155 Menschen, Mütter, Schwestern, Freundinnen, Kolleginnen wurden vergangenes Jahr hierzulande ermordet. Alle vier (4!) Minuten erfährt eine Frau in Deutschland Gewalt durch ihren (Ex-)Partner. Häufiger als alle zwei Stunden erlebt eine Frau sexualisierte Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner, 12.931 Frauen wurden von ihm schwer oder gefährlich körperlich verletzt. Fast 80 Prozent der Delikte der Partnerschaftsgewalt richten sich hauptsächlich gegen Frauen, schreiben die Vereinten Nationen auf ihrer Website.
Diese Zahlen – ein Schlag ins Gesicht. Natürlich ist es schön, dass es nun einen Ort des Gedenkens für den Femizid an Büşra gibt. Dafür gilt es, ein Dankeschön an die Hochschule auszusprechen. An jene, die sich dafür eingesetzt haben, einen Gedenkort zu schaffen. An Alicia*, eine Studentin, die maßgeblich daran beteiligt war und letztes Jahr im Ach_dasta! Interview davon berichtet hat. An das Gleichstellungsbüro, Prof. Dr. Yvonne Haffner, Dipl.-Pol. Julia Baumann und Sabine Kasten. An Prof. Dr. Beate Galm, die Antidiskriminierungsbeauftragte. Auch an jede:n, der sich in der Hochschule und außerhalb für Sichtbarkeit, Sicherheit und Gerechtigkeit einsetzt – und gegen Diskriminierungen und diskriminierende Strukturen.
Foto: Nina Schermal
Doch leider ist der Weg noch lang: Es gibt viel zu tun, Kämpfe werden nach wie vor von denjenigen Personen geführt, die betroffen sind. Deshalb gibt es Note 5+ für die diesjährige Gedenkveranstaltung und die Aufarbeitung an Büşras Geschichte. Ungenügend, weil es sich leider um das sogenannte bare minimum, also das Nötigste, handelte. Und ein Plus, weil die Gedenktafel Hoffnung macht – und ein Schritt in die richtige Richtung ist.
*Name zum Schutz der Protagonistin geändert
Hier findest du Hilfe:
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
Tel: 116 016 oder unter https://www.hilfetelefon.de
Bundesweites Hilfetelefon:
09000116016 (rund um die Uhr, kostenfrei, in 17 Sprachen)
Fachberatungsstelle für von Häuslicher Gewalt Betroffene, UnterstützerInnen und Interessierte: 06151-375080
Der Notruf nach sexueller Gewalt von pro familia Darmstadt: https://hilfe-nach-sexueller-gewalt-darmstadt.de/
Frauenhaus Darmstadt:
https://frauenhaus-darmstadt.de/
English version (automated translation):
Grade 5+ for the Commemoration of the Femicide of Büşra
by Nina Schermal (13.11.2024)
She could have been my sister, my friend, the woman sitting next to me on the train – or me. This thought overshadows everything on this day. The sky is gray, the air icy. Students gather at the central campus of Darmstadt University of Applied Sciences. Some head into the student building, others laugh. Only a small fraction of the 13,500 students paused last Wednesday, November 6, to remember her: Büşra G.
Illustration: Margo Sibel Koneberg
Fifteen years ago, on November 10, 2009, she was stabbed by her ex-partner in the computer lab of the Department of Mechanical Engineering and Plastics Technology (FBMK). Not a „relationship crime,“ not an isolated incident, but femicide—a systematic murder of a woman because she was a woman. Regarding Büşra’s killer, the presiding judge at the Darmstadt District Court stated that he wanted to „elevate himself above his victim,“ refusing to accept that she had ended their relationship, according to the Hessenschau.
Last Wednesday, a commemoration was held for Büşra, organized by the newly established Memory Culture Forum at h_da. In addition to speeches by university president Prof. Dr. Arnd Steinmetz, Prof. Dr. Bernhard Schetter (FBMK) also movingly shared his memories of Büşra. He was on the Mechatronics Examination Board 15 years ago and knew both Büşra and her later murderer. “When I think of her, I see a student wearing a headscarf, her head always lowered,” Schetter described. She was often seen around campus holding hands with her boyfriend and later killer. He recounted a private meeting at which Büşra was accompanied by the perpetrator. Though Schetter directed questions at her specifically, she did not respond. Her then-boyfriend, who would kill her months later, spoke on her behalf. For Schetter, the conversation with the couple was uncomfortable, as was his later meeting with the perpetrator alone. Schetter recalled the day of the crime and the “sea of candles and flowers” that students arranged after her death as personal expressions of grief and sympathy.
But there was no such powerful tribute last Wednesday. Instead: a roughly 45-minute, sloppily organized “memorial hour” (email from November 1). The sound quality and volume left much to be desired, especially for those seated in the back. The noise of beeping delivery vans and humming trucks around the corner replaced the absent mourning music, making it difficult to focus on the speakers. There was no stage or platform for the speakers, no wreath or even a bouquet of flowers, let alone a significant turnout.
Foto: Nina Schermal
The fact that not even all students from the affected FBMK department came together to honor Büşra’s memory is disheartening. Especially when the number of attendees is compared to the number of photographers present. FBMK students said they would have liked to attend, but mandatory classes prevented them. In other departments: no mention of Büşra’s murder or the memorial at the main Darmstadt campus. Femicide at the university? Never heard of it. Memorial event? Didn’t hear about it. How could they, with only a single email sent a week prior to the event, no social media posts, and no display on the campus screens? Apparently, remembering Büşra is so important to h_da that even the FBMK dean’s office didn’t know about it. Whatever the reason for the absence of the affected (!) dean’s office, one thing is clear: it was a slap in the face to all women of FBMK, with best regards from the dean’s office—which could watch the event from its office windows overlooking the venue.
Gender-based violence is an issue that needs attention, especially when, 15 years ago, a student was murdered on campus by her ex-partner, who was also a member of the university. Fifteen years have passed, enough time to address this femicide, approach students proactively, and raise awareness, especially among male students. Educate them. Instead, over a decade after the crime, an “explanatory memorial plaque” (email from November 1) is added in the FBMK courtyard to explain the previously somewhat lonely memorial tree. Can students even be expected to attend a memorial event when the dean’s office of the affected department doesn’t deem it important enough to show up for a matter involving violence against women?
Things can be done differently, as shown by the powerful speeches from Sarah Vessali, herself a student at FBMK, and Madeline Götz, head of the Darmstadt women’s shelter. To start, at least the two women pronounced the murdered student’s name correctly: Büşra, not Büsra. The “ş” is pronounced like “sh.” Vessali expressed pride in the young women studying at the university, noting there aren’t many in FBMK. Büşra was innocent, Vessali emphasized, except for the “guilt” of being a woman. “Femicide is more than a tragic event,” the 26-year-old said, “It represents a disregard for women, structures, and attitudes that still don’t adequately protect women and their rights.” Madeline Götz added that it’s essential to call femicides by their name, as it allows for statistical tracking. Numbers from the Federal Criminal Police Office (BKA) are heart-stopping:
Every other day in 2023, a woman was killed by her (ex-)partner. That means 155 people—mothers, sisters, friends, colleagues—were murdered last year in this country. Every four (4!) minutes, a woman in Germany experiences violence from her (ex-)partner. More than once every two hours, a woman experiences sexual violence from her partner or ex-partner. 12,931 women were severely or dangerously injured by him. Nearly 80 percent of partnership violence offenses primarily target women, according to the United Nations.
These figures are a slap in the face. Of course, it’s nice that there is now a place of remembrance for the femicide of Büşra. Thanks are due to the university, to those who advocated for creating a memorial, to Alicia*—a student who was instrumental in this and shared her story in an Ach_dasta! interview last year—to the Office for Equal Opportunities, Prof. Dr. Yvonne Haffner, Dipl.-Pol. Julia Baumann, and Sabine Kasten, and to Prof. Dr. Beate Galm, the anti-discrimination officer. Also, to everyone within and beyond the university advocating for visibility, safety, and justice, against discrimination and discriminatory structures.
Foto: Nina Schermal
Unfortunately, there’s still a long way to go. Much work remains, and the battles are still being fought by those who are most affected. That’s why the grade for this year’s memorial event and the commemoration of Büşra’s story is a 5+, insufficient, as it represented the so-called bare minimum, and a plus because the memorial plaque is a hopeful sign—a step in the right direction.
*Name changed to protect the person’s identity.
Here you can find help:
The helpline “Violence Against Women”:
Tel: 116 016 or at https://www.hilfetelefon.de
Nationwide helpline:
09000116016 (24/7, free, in 17 languages)
Special counseling center for those affected by domestic violence, supporters, and interested individuals: 06151-375080
Emergency hotline for sexual violence from pro familia Darmstadt:
https://hilfe-nach-sexueller-gewalt-darmstadt.de/
Darmstadt Women’s Shelter:
https://frauenhaus-darmstadt.de/
- Identität. Stil. Ausbeutung.Identität. Stil. Ausbeutung. von Yasmin Can (04.12.2024) Ich liebe Mode. Bereits als Kind hatte ich den Traum, Modedesignerin zu werden. Das ging so weit, dass ich meine eigene Kleidung zerschnitten, gefärbt oder mit Strass verziert habe. Mein Endgegner war jedoch meine genervte Mutter – nicht die knallharte Modewelt. Viele von uns haben ihren inneren Karl… Weiterlesen »Identität. Stil. Ausbeutung.
- Amerikas Frauen rächen sich Amerikas Frauen rächen sich von Marah Göttsch (29.11.2024) Ein verurteilter Sexualstraftäter besetzt erneut das Amt des US-Präsidenten. Donald Trumps Wahlsieg macht viele Frauen in den USA fassungslos und wütend, unter anderem weil sie befürchten, dass die Abtreibungsregelungen weiter verschärft werden. Einige greifen deshalb zu radikalen Maßnahmen: dem “4B-Movement”. Hat die feministische Bewegung auch in Deutschland… Weiterlesen »Amerikas Frauen rächen sich
- Für “den letzten Heiner” Für “den letzten Heiner” von Christoph Pfeiffer (20.11.2024) Als das Martinsviertel auf die Straße ging Der Geruch von Ruß und Benzin macht sich breit, Motorengeräusche bahnen sich ihren Weg durch das Viertel. Seitdem die vierspurige Autobahn das Martinsviertel zweigeteilt hat, hat sich das Leben im Darmstädter Norden verändert. Mit Charme behaftet und lebendig – das… Weiterlesen »Für “den letzten Heiner”