Von Keks-Krümeln und dem Mut, wieder aufzustehen
Kommentar von Marco Schüler
Stell dir vor, du wächst in absolutem Wohlstand auf. Deine Familie gehört zu den reichsten in ganz Deutschland. Du hast alles, was man an materiellem Besitz nur haben kann. Du bist jung, hast eine gute Ausbildung an einer der besten Universitäten auf der ganzen Welt genossen und erbst im zarten Alter von nur 20 Jahren ein Viertel des Familienunternehmens, das dein Urgroßvater an die Spitze der Branche geführt hat – ein Multi-Millionen-Dollar-Konzern mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Der Druck, der mit deinem Nachnamen bei der Geburt auf deine Schultern gelegt wurde, ist schwerwiegend, allgegenwärtig und steigt immer weiter an, bis du darunter begraben wirst. Wie von einem Geröllrutsch nach einem langen Regen.
Du gibst daraufhin den Posten an der Unternehmensspitze des Familienimperiums noch vor deinem 30. Lebensjahr ab. Das tust du nicht, weil du entschiedene:r Anti Kapitalist:in bist. Sondern du tust es, weil du ausgebrannt bist. Du berichtest von regelmäßigen Panikattacken und Geschäftstreffen, zu denen du nur weinend hinzugestoßen bist, weil du Angst hast. Angst davor, die Familie zu enttäuschen. Angst, nicht gut genug zu sein. Angst vor dem Leben, das eigentlich für dich bestimmt war. Für das du bestimmt warst.
Für Keks-Erbin Verena Bahlsen war das nicht nur ein Gedankenexperiment, sondern die erbarmungslose Realität. Erst Ende 2022 hat sie sich dazu entschieden, aus diesem Spießrutenlauf voller Erwartungen und Druck auszusteigen. Und passend zu unserer leistungsbezogenen und immer oberflächlicher werdenden Gesellschaft titelt eines der größten Medienhäuser der Bundesrepublik über ihren Namen: „Unsere Verliererin der Woche“. Da fällt einem doch glatt der Butterkeks in die Milch. Welch wahnsinnige Ausmaße unser persönlicher Geltungsdrang doch inzwischen angenommen hat. Wir erlauben es uns als Gesellschaft tatsächlich, die Entscheidung von Verena Bahlsen auf diese abartige Weise zu verurteilen, nachdem sie gerade erst einen Ausbruchsversuch geleistet hat. Raus aus dem Gefängnis, dessen Kerkertür die Gesellschaft vor ihren Augen zugeknallt, abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen hat.
Das hier ist kein Verteidigungsprozess einer x-beliebigen Snack-Millionärin, die ohnehin alles im Überfluss hat. Das hier ist ein Plädoyer für ein Umdenken in unserer gesamtgesellschaftlichen Fehlerkultur. Die letzten Jahre der sozialen Isolation, bei der unsere einzigen Freunde Home-Workouts, Zimmerpflanzen und Bananenbrot waren, haben klar gezeigt: Die menschliche Psyche ist nicht aus gehärtetem Stahl. Sie gilt es zu schützen, zu schätzen und vor allem zu unterstützen. Wegen eines Splitters im Daumen überrennen Menschen inzwischen die Notaufnahme ihres nächstgelegenen Krankenhauses – aber der nächste Psychotherapeut, der einem die kompetenteste Hilfe in Sachen mentaler Gesundheit geben kann, ist für die Gesellschaft noch immer ein Unding, welches es zu meiden gilt. Ein Thema, über das wir in kaum offen reden und noch weniger offen dazu stehen, wenn wir uns bereits in einer Therapie befinden.
Aber was ist denn dabei, wenn wir auch mal zeigen, dass wir schwach sind oder leiden oder auch mal straucheln und hinfallen? Wenn wir unsere Filterblase voller unerreichbarer Ziele und Schönheitsideale durchbrechen und zugeben, dass wir etwas nicht können? Frau Bahlsen ist nur ein Beispiel dafür, dass der alte weiße Mann namens Deutschland eine Krankheit hat. Die Volkskrankheit ist nicht mehr nur ein tiefsitzender Rückenschmerz. Viel mehr fehlt dem kränkelnden Wrack die Bereitschaft dazu zu stehen, dass es nicht perfekt ist. Dass wir Schwächen haben. Dass es keine Schande ist, wenn wir dem permanenten Druck um uns herum nicht standhalten können.
Verena Bahlsen ist keine „Verliererin der Woche“ – sie hat sich etwas getraut, das viele andere scheinbar verlernt haben. Sie war mutig genug, zu ihren Unzulänglichkeiten und Zweifeln zu stehen. Dieser Mut sollte gesehen und nicht kleingeredet werden. Denn sie ist vielen von uns schon einen Schritt voraus.
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Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich mit diesem Text anfangen soll. Einerseits stimme ich zu, Versagen zuzugeben sollte nicht automatisch zur gesellschaftlichen Verdammung führen. Das gilt selbst für Millionärserben. Trotzdem habe ich zwei Probleme hiermit, einmal ein persönliches. Ich selbst leider unter einer psychischen Erkrankung. Und ich habe kein Geld. Wenn sich also eine Millionärserbin darüber beklagt nicht mit dem psychischen Druck einer CEO Tätigkeit zurecht zu kommen und diese deswegen aufgibt ist mein Mitleid bei allem Verständnis doch sehr begrenzt. Ich möchte hierfür den Marcel Reich-Ranicki zugeschriebenen Satz zitieren: „Geld allein macht nicht glücklich, aber es ist besser, in einem Taxi zu weinen als in der Straßenbahn.“ Zudem wäre es interessant gewesen worüber genau sich der Spiegel da lustig gemacht hat. Titel-Kritik ist nicht notwendigerweise schlecht, aber gibt meines Erachtens oft zu wenig her, gerade in Zeiten von Clickbait. Das zweite Problem ist ein wenig anders gelagert, Frau Bahlsen ist ja schon einmal in der Öffentlichkeit aufgefallen. Damals durch ihren , mit Verlaub, armseligen Kommentar bezüglich der Sklavenarbeiter in den Bahlsen Betrieben zur Zeit des Nationalsozialismus. Ich sage das, weil ich glaube das ein guter Teil Hohn auch eine Nachwirkung dessen ist.