Wer bin ich und wer möchte ich in Zukunft sein?
von Jana Mayer
…Diesen Fragen habe ich mich mit diesem Text gewidmet. Entstanden ist der Text für einen Poetry Slam im Rahmen eines Seminars in meinem Studiengang. Der Studiengang Angewandte Sozialwissenschaften ist recht interdisziplinär aufgestellt. Das war mit einer der Gründe, warum ich mich damals für dafür entschieden habe. Es bringt allerdings auch einige Unsicherheiten mit sich, wenn man etwas studiert, womit 1. nicht jede:r etwas vom Namen her anfangen kann und womit 2. kein klares Berufsbild einhergeht. Zwar sollte das Seminar “Berufsorientierung” diese Unsicherheiten ausräumen, bewirkt hat es bei mir aber eher das Gegenteil. Im Rahmen des Poetry Slams war ich gezwungen mich mit mir selbst und meinen Fähigkeiten auseinanderzusetzen und erst das hat dazu geführt, dass ich diese Unsicherheiten, vor denen ich stehe, akzeptieren kann und ihn ihnen auch etwas Positives sehe.
Wer bin ich und wer möchte ich in Zukunft sein? Die Frage stelle ich mir immer wieder…
Hi, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Jana, ich bin 20 Jahre alt und habe im Februar Geburtstag. Ich bin 1,63m groß und meine Haare sind braun. Wisst ihr jetzt wer ich bin? Was sagt diese Beschreibung über mich, meine Berufswahl, meine Persönlichkeit oder mein Studium aus? Ich verrate es euch: Rein gar nix! Ihr wisst weder wer ich bin noch wer ich in Zukunft sein möchte. Und ganz ehrlich – manchmal weiß ich das selbst nicht.
Was sagt denn etwas darüber aus, wer ich bin und wer ich sein möchte? Was sagt etwas über mich, meine Berufswahl, mein Studium, meine Persönlichkeit oder sonst etwas aus? Manchmal habe ich das Gefühl, jeder um mich herum weiß ganz genau, wer er ist, was er macht und wer er in Zukunft sein möchte. Manchmal habe ich das Gefühl jeder um mich herum, hat einen Plan was er wie mit seinem Leben anstellen will. Manchmal denke ich, ich bin die Einzige, die auch mal an ihrer Studienwahl zweifelt. Manchmal scheint jeder um mich außen rum von klein auf einen Traumberuf gehabt zu haben. Jeder wollte Ärztin, Pilot, Feuerwehrfrau, Tierpfleger oder Karla Kolumna, die rasende Reporterin werden. Jeder hatte seinen Traumberuf.
Dabei hatte ich auch einen Traumberuf, beziehungsweise, ich hatte sogar mehr als einen: In meinem Freundebuch aus der ersten Klasse stand, dass ich Ballerina werde. Später wollte ich dann Kinderbuchautorin werden und war in der dritten Klasse ganz motiviert ein Buch zu schreiben. In der Mittelstufe war für mich klar, ich werde Innenarchitektin. In der Oberstufe war ich dann ganz begeistert vom Wirtschaftsunterricht und dachte ich studiere BWL. Und dann kam der Berufsorientierungstest, der mir vorgeschlagen hat Versicherungsfachangestellte oder Bibliothekarin zu werden. Das konnte ich mir jetzt ja so gar nicht vorstellen.
Naja, ich möchte euch hier nicht langweilen mit meinem Rumgeschwafel. Der Punkt ist, so ging das noch eine ganze Weile weiter: ein ewiges Hin und Her, wo wohl meine Stärken liegen könnten und was mir Spaß machen würde. Die Fragen: „Wer bin ich?“ und „Wer will ich in Zukunft sein?“ gingen mir immer wieder durch den Kopf. Jetzt stehe ich hier: Zwei Jahre später und studiere Angewandte Sozialwissenschaften – und das mittlerweile im vierten Semester.
Versteht mich nicht falsch, bisher klang es vielleicht so, als würde ich jetzt gleich sagen, dass ich mein Studium bei nächster Gelegenheit hinschmeiße und doch noch Ballerina werde. Ich kann euch beruhigen: Das ist momentan eher nicht geplant.
Nein, eigentlich bin ich sogar ganz zufrieden mit meinem Studium. Und trotzdem kommen manchmal wieder die Fragen auf, wer ich bin und wer ich in Zukunft sein werde. Trotzdem kommen immer noch die Zweifel auf: Bin ich weniger wert, weil mein Traumberuf nicht von klein auf feststand? Weil ich nicht Ärztin, Pilotin, Feuerwehrfrau, Tierpflegerin oder Karla Kolumna werden wollte? Wenn ich sage: Ich studiere Angewandte Sozialwissenschaften, ist es dann ein Problem, dass sich darunter nicht jeder was vorstellen kann? Ist es ein Problem, dass ich gefragt werde, was ich später damit machen kann?
Zwar kann ich nicht wie der Medizinstudent sagen, dass ich mal Arzt werde. Oder wie die Auszubildende beim Tierarzt, dass ich Tierpflegerin werde. Nein, wenn ich gefragt werde, was ich später mal mit meinem Studium mache, dann stehe ich oft erst mal etwas ratlos da, was ich antworten soll. Dann weiß ich immer noch nicht wer ich in Zukunft sein werde.
Aber ist das nicht der Charme der Sozialwissenschaften? Ist es nicht schön, dass meinem Studium noch kein konkretes Berufsbild zugeordnet ist? Was macht der Tierpfleger, wenn er keine Tiere mehr pflegt? Was macht die Feuerwehrfrau, wenn sie keine Brände mehr löscht? Was macht ein Pilot, wenn er nicht mehr fliegt? Naja, in der Corona-Krise schulte er um zum Lockführer…
Vor dem Problem stehe ich nicht. Mir stehen noch alle Türen offen: Gehe ich in Richtung Management? Arbeite ich in einer Unternehmensberatung? Lande ich in einer Werbeagentur oder doch in der Forschung? Bin ich an einer Hochschule angestellt oder doch bei einer Partei? Agiere ich in einer NGO oder doch in einem Verlag? Sitze ich in der Personalabteilung oder doch auf dem Chefsessel? Das weiß ich heute noch nicht. Zwar weiß ich noch nicht, wer ich sein werde, dafür aber was ich kann. Ich kann Forschung betreiben – so mit Datenerhebung, Auswertung und allem drumherum. Genauso besitze ich aber auch grundlegende Managementfähigkeiten und ein Verständnis der Menschen.
Und ist das nicht eigentlich etwas Schönes? Ist es nicht etwas Schönes, zu wissen, dass einem viele Türen offenstehen? Zu wissen, dass ich nicht mit 20 Jahren die Entscheidung treffe, mein Leben lang Ärztin, Pilotin oder Karla Kolumna zu sein? Ist es nicht schön, dass ich der Oma eben erklären muss, was Sozialwissenschaften sind? Ist es so nicht schöner, als später festzustellen, dass ich als Ballerina gar kein Ballett tanzen kann und meine Kinderbücher niemand lesen will?
Vielleicht ist es gar kein Problem, dass ich nicht von klein auf wusste, was ich mal werden möchte. Vielleicht ist es gar kein Problem, dass ich nicht weiß, wer ich in Zukunft sein werde. Vielleicht bin gar nicht ich das Problem, sondern die Gesellschaft, die zu jedem Zeitpunkt eine adäquate Antwort von mir erwartet auf die Frage, was ich mal mit meinem Leben anfangen möchte. Ist es nicht absurd, in unserer heutigen, so schnelllebigen Welt zu erwarten, dass man jetzt schon weiß, was man die nächsten 40 Jahre machen will? Vor vierzig Jahren gab es noch kein Iphone, kein Instagram und keine Influencer. Und hätte man damals jemandem erzählt, dass wir Anrufe über unsere Armbanduhren empfangen, wäre man sicherlich ausgelacht worden.
1876 wurde der erste Telefonanruf getätigt. Bis zur Erfindung des Computers hat es 61 Jahre gedauert. Bis zur Entwicklung des Internets sind weitere 37 Jahre vergangen.1 Und heute? Heute vereinen wir alle drei Erfindungen in einem kleinen Display, das wir in unseren Hosentaschen mit uns rumschleppen. Smartphones kommen heutzutage zu tausenden neu auf den Markt. Unsere Welt entwickelt sich immer schneller weiter. Im Schnitt blieben Arbeitnehmer 2014 ihrem Arbeitgeber knapp elf Jahre treu.2 Für junge Arbeitnehmer sind diese Zahlen nochmal deutlich geringer. Aber gehen wir doch mal davon aus, dass ich mit 18 Abitur gemacht habe, mit 21 mit meinem Studium fertig sein werde und nach heutigem Stand mit 67 Jahren in Rente gehe:3 Dann sind das immerhin 46 Jahre Berufstätigkeit, also mindestens vier Wechsel des Arbeitgebers -statistisch gesehen. 46 Jahre Berufsleben – genug Zeit, um sich auch nochmal umzuorientieren. Genug Zeit, um mal in der Personalabteilung und mal im Chefsessel zu sitzen. Genug Zeit, um mal in der NGO und mal in der Unternehmensberatung zu arbeiten. Vor 46 Jahren waren das Internet und PCs gerade mal ein Jahr alt. Wenn man sich die technischen Entwicklungen der letzten 46 Jahre anschaut, dann kann man gespannt sein, wie wir, in 46 Jahren, vor dem Eintritt in die Rente, arbeiten und leben werden. 46 Jahre sind genug Zeit, um sich mit der Frage zu beschäftigen, wer ich bin und wer ich in Zukunft sein möchte.
Heute weiß ich noch nicht, was die Zukunft bringt. Heute muss ich meiner Oma noch erklären, dass ich als Sozialwissenschaftlerin keine verhaltensauffälligen Kinder betreue. Aber heute weiß ich wer ich jetzt gerade bin: Ich bin Jana, 20 Jahre, studiere Angewandte Sozialwissenschaften und engagiere mich in unserer Studierendenzeitung. In meiner Freizeit tanze ich gerne und singe im Chor. Ich kann offen auf Menschen zugehen, bin empathisch (meistens jedenfalls) und kann gut Organisieren. Heute definiere ich mich über meine Persönlichkeit, meine Hobbys und meine Stärken. Und wer ich in Zukunft bin, das wird die Zukunft mir schon zeigen. Und wenn ich mal nicht mehr so genau weiß, wer ich gerade bin, dann ist das auch ok.
Quellen
- https://www.britannica.com/story/history-of-technology-timeline
- https://www.spiegel.de/karriere/betriebstreue-so-schnell-wechseln-die-deutschen-ihren-job-a-1158685.html
- https://www.smart-rechner.de/rentenbeginn/ratgeber/renteneintrittsalter_tabelle.php
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