„Wir können uns nicht auf den Staat oder auf die Polizei verlassen“ – Der alternative CSD in Darmstadt: Eine Rückkehr zum politischen Protest
von Katarina Neher (13.09.2024)
Für viele queere Menschen sind die Besuche verschiedener CSDs in ganz Deutschland ein fester Bestandteil des Sommers. Doch während der traditionelle CSD sich immer mehr zu einem populären Event mit starkem Fokus auf Sichtbarkeit und mit großen Markenpartnerschaften entwickelt hat, sehen viele darin eine Entpolitisierung der ursprünglichen Ziele der LGBTQIA+-Bewegung. Der alternative CSD in Darmstadt, den die Organisation Queer Liberation zusammen mit Young Struggle, SDAJ Darmstadt und Seebrücke Darmstadt ins Leben gerufen hat, setzt dem eine bewusst politische und radikale Ausrichtung entgegen. Dabei geht es nicht nur um die Feier der Vielfalt, sondern um das Sichtbarmachen und Bekämpfen struktureller Ungerechtigkeiten und Marginalisierung innerhalb und außerhalb der queeren Community.
Sam (er/sie/dey)* ist Mitglied bei Queer Liberation Darmstadt und studiert Motion Pictures an der Hochschule Darmstadt. Ach_dasta!-Autorin Tari hat mit Sam über die Ziele und Visionen des alternativen CSD sowie über die Kritik an der zunehmenden Kommerzialisierung und politischen Entschärfung des traditionellen CSD gesprochen. Zudem wird beleuchtet, wie der alternative CSD versucht, mehr Raum für alle marginalisierten Gruppen zu schaffen und die Ursprünge der queeren Bewegung als politischen Protest wieder stärker in den Fokus zu rücken.
*Mehrere Pronomen:
Sam benutzt er/ihm, sie/ihr und dey/deren als Pronomen. Ihr ist dabei egal, ob diese Pronomen abgewechselt werden, oder nur ein Pronomen für ihn benutzt wird. Andere Personen, die mehrere Pronomen benutzen, präferieren, dass diese abgewechselt werden.
Illustration: Margo Sibel Koneberg
Was ist „Queer Liberation“ und was macht ihr?
Wie der Name schon sagt, geht es bei Queer Liberation um die Befreiung von LGBTI+ Personen. Das schließt für uns aber auch den Kampf für Arbeiter:innen-Rechte, gegen Rassismus, gegen Imperialismus und gegen andere Unterdrückungsformen mit ein. Wie Marsha P. Johnson bereits sagte: „No pride for some of us without liberation for all of us.” Aktuell beteiligen wir uns vor allem an der Organisation von Demonstrationen, zum Beispiel dem alternativen CSD, der eine linke Alternative zu dem größeren CSD bieten soll. Außerdem planen wir Veranstaltungen wie Soli-Abende, um Spenden zu sammeln oder hosten einen Lesekreis zusammen mit der Organisation Young Struggle. In Zukunft wollen wir auch mehr Infoveranstaltungen machen.
Warum braucht es einen alternativen CSD?
Ich glaube, dafür muss ich erstmal auf die Ursprünge des CSD eingehen. Er sollte eine Veranstaltung sein, die den Stonewall Riots gedenkt, also den Aufständen, bei denen sich im Jahr 1969 im Stonewall Inn, also einer Bar in der Christopher Street in New York, vor allem schwarze trans Aktivist:innen gegen die Polizei gewehrt haben. Die Barbesucher:innen waren dort immer wieder queerfeindlichen Razzien von der Polizei ausgesetzt und haben sich eines Tages dazu entschlossen, sich zu wehren. Für uns ist das Problem, dass von diesem Geist bei den CSDs heute eigentlich nichts wirklich übrig ist. Es gibt kaum politische Forderungen und das, obwohl es eigentlich noch sehr viel zu fordern gäbe. Die Polizei ist üblicherweise trotz der Leaks von rechtsextremen Gruppenchats in den letzten Jahren und regelmäßiger Polizeigewalt mit ihrem eigenen Werbestand dabei. Auch finden wir es falsch, dass die Regierungsparteien mit eigenen Ständen vertreten sind, obwohl sie selbst queerfeindliche Gesetze erlassen, queerfeindliche Rhetorik bedienen und Kriege und Genozide in der ganzen Welt unterstützen. Auch viele Großkonzerne sind in ganz Deutschland auf den CSDs vertreten. Wir wollten deswegen eine Demo schaffen, die diese Umstände kritisiert, ohne Werbung für die Polizei, für Regierungsparteien oder Konzerne auskommt und sich mehr auf die Ursprünge von Stonewall rückbezieht.
Welche Veränderungen bräuchte es bei der Organisation des CSD in euren Augen?
Es gibt für mich sehr viel, was verändert werden könnte. Die CSDs in Deutschland sind sehr eingegliedert in die Machtverhältnisse unserer Gesellschaft. Sie bekommen Geld von Städten, Parteien und Unternehmen. Ihr Anspruch ist es, eine möglichst große Veranstaltung zu organisieren, bei der möglichst viele Leute kommen und Spaß haben können. Prinzipiell ist das ja auch okay. Dennoch wäre es schon mal ein Anfang, der Polizei keinen eigenen Stand zu gewähren und sich von dem Gedanken zu verabschieden, eine Party daraus zu machen. Es sollte eine Demonstration sein, bei der auch politische Forderungen gestellt werden, auch wenn man dann in Kauf nehmen muss, dass man zum Beispiel weniger Geld für Bühnenprogramme zur Verfügung hat.
Haben beide CSDs eine Berechtigung und können unterschiedliche Aufgaben in der queeren Bewegung übernehmen?
Ich denke schon, dass die großen CSDs, die politisch weniger radikal sind und die alternativen CSDs mit ihren radikaleren Forderungen gleichzeitig bestehen können, da sie unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen. Die größeren CSDs sind eventuell zugänglicher für Menschen, die noch keine großen Berührungspunkte mit Queerness hatten. Dennoch schließt das nicht aus, dass darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass es noch sehr viel Diskriminierung und Unterdrückung gibt. Zum Beispiel könnten mehr Blöcke zugelassen werden, die politischer sind und auch radikalere Forderungen stellen. Wir hatten dieses Jahr auf dem CSD wieder einen kleineren linkeren Block und wurden dann gebeten, unsere Rufe nach Solidarität mit Palästina einzustellen, weil das die anderen Leute doch stören würde. Ich glaube, dass so eine Gleichzeitigkeit existieren könnte, wenn sie auch zugelassen würde.
Fühlt ihr euch bei euren Veranstaltungen und Demonstrationen sicher?
Hundertprozentig sicher kann man sich als queere Person nie fühlen, weil wir in Deutschland einfach nicht sicher sind. Wir geben unser Bestes, den Menschen bei unseren Demos so gut es geht, das Gefühl von Sicherheit zu geben. Wir haben im Vorhinein über das Awareness-Konzept geredet und ein Awareness-Team aufgestellt. Ich fühle mich auf kleineren Demos jedoch oft sehr viel sicherer als auf den größeren CSDs, weil der Zusammenhalt und die Solidarität dort viel stärker sind. Beim alternativen CSD gab es zwischendurch ein paar Anfeindungen und Leute, die herumgeschrien haben, als wir unsere Zwischenkundgebung machen wollten. In den Momenten haben sofort Ordner:innen und sogar Teilnehmer:innen eingegriffen und versucht, die Demonstration zu schützen. Dementsprechend habe ich das Gefühl, dass wir uns ein Netzwerk schaffen können, mit dem wir uns so gut es geht selbst schützen können. Wir können uns nicht auf den Staat oder auf die Polizei verlassen.
Wie ist für euch die Idee für Queer Liberation gekommen?
Es gab schon letztes Jahr einen alternativen CSD in Darmstadt, den vor allem Mitglieder organisiert haben, die jetzt Teil von Queer Liberation sind. Uns kam die Idee durch den alternativen CSD in Mainz. Wir waren damals das Stonewall Bündnis aus verschiedenen Organisationen und einzelnen Personen in Darmstadt und haben uns dann gedacht, dass wir bestimmt wieder ähnliche Aktionen organisieren wollen. An Maltes Todestag haben wir eine Kundgebung gemacht und dann war der logische nächste Schritt, eine eigene Organisation zu gründen, weil das die Strukturen deutlich vereinfacht. So hat sich Queer Liberation gegründet. Unser Hauptziel war einfach, ein Safer Space für queere linke Menschen zu sein.
Todestag von Malte C.:
Der 25-jährige trans Mann Malte C. wurde 2022 beim Christopher Street Day in Münster getötet, als er versuchte, Teilnehmerinnen vor den Aggressionen eines Angreifers zu schützen, der diese zuvor mit queerfeindlichen Äußerungen beleidigt hatte. Nach einem Faustschlag eines ausgebildeten Boxers erlitt Malte ein Schädelhirntrauma, dem er später im Krankenhaus erlag.
Möchtest du unseren Leser:innen noch etwas mitgeben?
Ich möchte nochmal betonen, dass es ganz wichtig ist, sich zu organisieren. Ich weiß, dass die Hemmschwelle, sich einer Organisation anzuschließen, oft sehr hoch ist. Es hilft aber wirklich, wenn man eine Community hat, die einem dabei helfen kann, mit den Ängsten und Sorgen über den Zustand der Welt klarzukommen. Außerdem ist es wichtig, sich nicht einschüchtern zu lassen und radikal im Kampf gegen den Faschismus zu bleiben. Nur wenn wir uns organisieren, haben wir die Möglichkeit, eine große, linke und klassenbewusste Bewegung zu schaffen, die für ein besseres System einsteht und den Faschismus endgültig besiegt.
English version (automated translation):
“We cannot rely on the state or the police” – The alternative CSD in Darmstadt: A return to political protest
by Katarina Neher (13.09.2024)
For many queer people, attending various CSDs (Christopher Street Days) across Germany is a staple of the summer. However, while the traditional CSD has increasingly evolved into a popular event with a strong focus on visibility and major brand partnerships, many see this as a depoliticization of the original goals of the LGBTQIA+ movement. The alternative CSD in Darmstadt, initiated by the organization Queer Liberation together with Young Struggle, SDAJ Darmstadt, and Seebrücke Darmstadt, counters this with a deliberately political and radical approach. It’s not just about celebrating diversity but also about highlighting and combating structural injustices and marginalization within and outside the queer community.
Sam (he/she/they)* is a member of Queer Liberation Darmstadt and studies Motion Pictures at the University of Applied Sciences Darmstadt. Ach_dasta! author Tari spoke with Sam about the goals and visions of the alternative CSD as well as the criticism of the increasing commercialization and political softening of the traditional CSD. Additionally, the conversation sheds light on how the alternative CSD aims to create more space for all marginalized groups and to bring the roots of the queer movement as a political protest back into focus.
*Multiple Pronouns:
Sam uses he/him, she/her, and dey/them pronouns. She doesn’t mind whether these pronouns are alternated or if only one pronoun is used for him. Other people who use multiple pronouns prefer that these are alternated.
illustration: Margo Sibel Koneberg
What is „Queer Liberation“ and what do you do?
As the name suggests, Queer Liberation is about the liberation of LGBTI+ individuals. For us, this also includes the fight for workers‘ rights, against racism, against imperialism, and other forms of oppression. As Marsha P. Johnson said: „No pride for some of us without liberation for all of us.“ Currently, we are mainly involved in organizing demonstrations, such as the alternative CSD, which aims to provide a leftist alternative to the larger CSD. We also plan events like solidarity evenings to raise funds and host a reading group together with the organization Young Struggle. In the future, we also want to hold more informational events.
Why is there a need for an alternative CSD?
I think I first need to address the origins of the CSD. It was supposed to be an event commemorating the Stonewall Riots, the uprisings in 1969 at the Stonewall Inn, a bar on Christopher Street in New York, where primarily Black trans activists resisted the police. The bar patrons were repeatedly subjected to queerphobic raids by the police and decided one day to fight back. For us, the problem is that this spirit is virtually absent in today’s CSDs. There are hardly any political demands, despite the fact that there is still so much to demand. The police are usually present with their own booths, despite recent leaks of far-right group chats and regular police violence. We also find it wrong that government parties have their own booths, even though they themselves enact queerphobic laws, use queerphobic rhetoric, and support wars and genocides around the world. Many large corporations are also present at CSDs across Germany. That’s why we wanted to create a demo that criticizes these circumstances, avoids advertising for the police, government parties, or corporations, and focuses more on the origins of Stonewall.
What changes do you think are needed in the organization of CSDs?
There is a lot that could be changed for me. CSDs in Germany are very integrated into the power structures of our society. They receive money from cities, parties, and companies. Their goal is to organize a large event with as many people attending and having fun as possible. Generally, that’s okay. However, it would already be a start to deny the police their own booth and to let go of the idea of turning it into just a party. It should be a demonstration that also makes political demands, even if it means having less money for stage programs.
Can both CSDs coexist and serve different roles in the queer movement?
I think that the large CSDs, which are less politically radical, and the alternative CSDs with their more radical demands can coexist, as they serve different needs. The larger CSDs might be more accessible to people who have had fewer interactions with queerness. Nonetheless, this does not mean that it should be overlooked that there is still a lot of discrimination and oppression. For example, more blocks could be allowed that are more political and make more radical demands. This year, we had a smaller leftist block at the CSD and were then asked to stop our calls for solidarity with Palestine because it would disturb other people. I believe that such a coexistence could exist if it were allowed.
Do you feel safe at your events and demonstrations?
One can never feel 100% safe as a queer person because we are simply not safe in Germany. We do our best to provide a sense of safety to people at our demos. We have discussed the awareness concept in advance and set up an awareness team. However, I often feel much safer at smaller demos than at the larger CSDs because the solidarity and unity there are much stronger. At the alternative CSD, there were some hostilities and people shouting when we wanted to hold our interim rally. At those moments, marshals and even participants immediately intervened and tried to protect the demonstration. Therefore, I feel that we can build a network with which we can protect ourselves as much as possible. We cannot rely on the state or the police.
How did the idea for Queer Liberation come about for you?
There was already an alternative CSD in Darmstadt last year, organized mainly by members who are now part of Queer Liberation. We got the idea from the alternative CSD in Mainz. At that time, we were the Stonewall Alliance from various organizations and individuals in Darmstadt and thought that we definitely wanted to organize similar actions again. On the anniversary of Malte’s death, we held a demonstration, and then the logical next step was to found our own organization because it simplifies the structures significantly. Thus, Queer Liberation was founded. Our main goal was simply to create a safer space for queer leftist people.
Anniversary of Malte C.’s Death:
25-year-old trans man Malte C. was killed in 2022 at the Christopher Street Day in Münster while trying to protect participants from the aggression of an attacker who had previously insulted them with queerphobic remarks. After a punch from a trained boxer, Malte suffered a traumatic brain injury, which he later succumbed to in the hospital.
Do you have any final message for our readers?
I want to emphasize again that it is very important to organize. I know that the threshold to join an organization is often very high. However, it really helps to have a community that can assist in coping with the fears and worries about the state of the world. It is also important not to be intimidated and to remain radical in the fight against fascism. Only if we organize can we create a large, leftist, and class-conscious movement that advocates for a better system and defeats fascism once and for all.
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