von Louisa Albert (22.Okt.2025)
Graue Wände werden zu Kunst, während bei nächtlichen Streifzügen das Adrenalin kickt. Graffiti ist für viele Sprayer*innen gelebte Subkultur, in der sich FLINTA* langsam aber sicher ihren rechtmäßigen Platz erkämpfen. So auch L. (25), die seit fünf Jahren in der Darmstädter Graffiti-Szene aktiv ist. Am häufigsten trifft man sie an der Lincoln Wall, der legalen Graffiti-Wand an der B3. Im Interview haben wir über ihre Leidenschaft, Graffiti-Basics und FLINTA*-Crews gesprochen.
FLINTA* steht für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen. Das Sternchen am Ende soll zusätzlich weitere Variationen der Geschlechtervielfalt einbeziehen.

Fotos: Ellie Haase
Wie bist du zum Graffiti gekommen?
Ich fand Graffiti schon immer cool und habe mit 15 diese ganzen Berlin-Kidz-Videos* auf YouTube angeschaut. In den Videos sind die in Häuser eingestiegen und haben auf irgendwelchen Dächern gesprayed. Ich hätte aber nie gedacht, dass das etwas ist, das ich auch machen könnte. Während Corona habe ich dann angefangen, mehr zu malen – auf Leinwänden oder auf Papier – und hab das dann in meiner Instagram-Story gepostet. Darauf hat dann ein Freund von mir geantwortet. Er meinte, es sieht richtig cool aus und hat mich gefragt, ob wir mal sprühen gehen wollen. Wir waren dann zusammen an der Lincoln Wall und er hat mir erklärt, wie alles funktioniert und worauf ich achten muss. Viel lernt man dann auch einfach durch das Sprühen. Graffiti bedeutet für mich eine neue Art, sich auszuprobieren, Spaß zu haben und ein bisschen Kunst zu machen.
*Anmerkung der Redaktion: Künstler*innen-Kollektiv aus Kreuzberg, Berlin
Wie reagieren Leute in deinem Umfeld, wenn du ihnen von deinem Hobby erzählst?
Die meisten finden das eigentlich ziemlich cool. Ich hatte noch keine negativen Reaktionen, aber auch weil ich darauf achte, wem ich das erzähle. In meiner Familie wissen es auch nur so ausgewählte Leute (lacht).


Viele Menschen haben oft entweder riesige Kunstwerke oder vollgeschmierte Stromkästen vor Augen, wenn sie an Graffiti denken. Wo verortest du dich mit dem, was du machst?
Ich würde sagen, ich bin irgendwie dazwischen. Ich laufe jetzt nicht durch die Stadt und schmiere überall meine Tags hin, darin sehe ich nicht wirklich einen Wert. Generell mache ich nicht so krass viel illegal, weil ich zumindest aktuell nicht die Zeit oder Motivation dafür habe, um nachts aufzustehen und rauszugehen. Ich bin häufiger an der Lincoln Wall und nehme mir dann Zeit, um ein größeres Konzept zu überlegen und eher etwas Künstlerisches zu machen.
„Ich habe einen ästhetischen Anspruch, etwas Schönes an die Wand zu malen, etwas, das mir gefällt.“
Und ich versuche herauszufinden, wie ich meinen normalen Malstil ins Graffiti übertragen kann. Das ist oft schwierig, weil ich viel mit kleinen Details arbeite und im Graffiti dann alles sehr viel größer sein muss, um kleinere Feinheiten gut hinzukriegen.
Was genau kann man sich unter Tags in der Graffiti-Szene vorstellen?
Alle haben ihren eigenen Namen, den man auch manchmal wechselt. Ich habe meinen Namen schon so oft gewechselt, weil er mir nach einer Woche nicht mehr gefallen hat. Jetzt bin ich aber seit längerem bei zwei Namen geblieben, einem für die Lincoln Wall und einen für andere Sachen (schmunzelt). Die verschiedenen Namen erkennt man auch am Stil. Das heißt, wenn jemand seinen Namen wechselt, sieht man vermutlich trotzdem, um welche Person es sich handelt.
Gibt es bestimmte Personen oder Crews in der Graffiti-Szene, die dich inspirieren?
Ich verfolge auf Instagram ein paar Accounts, vor allem von FLINTA*-Crews, zum Beispiel die PMS-Crew oder die Toygirls. Und sonst habe ich angefangen, mir ältere Graffiti-Magazine aus den Neunzigern zu kaufen, weil ich das sehr cool finde, wie die damals so gemalt haben.

Wie würdest du die Szene in Darmstadt beschreiben? Gibt es einen offenen Zugang für Anfänger*innen?
„Wenn man mit Graffiti in Darmstadt anfangen will, kommt es schon sehr darauf an, ob man ein Mann ist oder nicht.“
Ich sehe, dass den Männern oder Jungs wesentlich mehr Möglichkeiten gegeben werden und sie einfach einen leichteren Zugang dazu haben. Die älteren Sprüher nehmen die unter ihre Fittiche und zeigen denen alles, das gibt es für Mädchen irgendwie nicht. Ich hatte einfach Glück, dass ich einen Freund hatte, der nicht so ist und mir damals alles gezeigt hat. Ich kenne FLINTA*, die schon öfter gesagt haben: “Ich würde gerne mit Graffiti anfangen, aber ich weiß gar nicht, wo ich überhaupt Dosen herkriege oder wo ich überhaupt malen kann.” Viele Leute kennen die Lincoln Wall gar nicht oder wissen nicht, dass es auch in anderenStädten die Möglichkeit gibt, legal zu malen. Zum Beispiel beim Schlachthof in Wiesbaden oder in Frankfurt am alten Campus in Bockenheim.
Wenn man mit Graffiti anfangen möchte, gibt es bestimmte Regeln, die es zu beachten gilt? Was wären da Beispiele?
Das hauptsächliche Ding ist, dass man nicht in die Pieces, also in die Werke von anderen, reinmalt. Dieses Crossing ist ein Diss, du sagst damit: „Ich finde es voll hässlich, was du gemacht hast, ich bin besser als du.” Die Standard-Beleidigung dabei ist Toy. Ich finde das unnötig, es gibt mehr als genug Platz für alle. Wenn man an der Lincoln Wall malt, dann sollte man vorher streichen und das alte Werk komplett überdecken, sodass man nicht sieht, worüber man malt.
Gibt es in Darmstadt Graffiti-Persönlichkeiten, die jede*r kennt?
In Darmstadt gibt es sogar relativ viele, weil die Szene sehr aktiv hier ist. Es gibt zum Beispiel Asix oder Wolke. Und generell viele, die eher dem Antistyle angehören.
Was ist Antistyle?
Antistyle ist eine Stilrichtung, die sich als Gegenbewegung zum Stylewriting entwickelt hat. Das sind die verschiedenen Stile, die aus der Oldschool-Zeit kommen und mit denen man seinen eigenen Stil einordnen konnte. Mit Antistyle wollte man dann später zeigen: “Wir wollen einfach Graffiti machen und nicht erst unseren Style perfektionieren, nur damit er dann genauso aussieht wie von den Oldschoolern aus den Achtzigern. Wir wollen auf die Regeln scheißen und das Ganze ein bisschen revolutionieren.”

Wo würdest du dich stilmäßig einordnen?
Ich würde mich auch in Richtung Antistyle einordnen. Für diesen Oldschool-Style habe ich einfach nicht die technischen Fähigkeiten. Aber mir ist es auch gar nicht so wichtig, mich da einordnen zu können. Ich male einfach, was mir gefällt.
Wie wichtig findest du die Auseinandersetzung mit der Subkultur Graffiti, wenn man selbst malt?
Ich finde es auf jeden Fall wichtig, dass man Graffiti nicht nur als Ausdrucksform verwendet, sondern dass man sich auch mit der Geschichte beschäftigt. Graffiti hat einen sehr politischen Ursprung und man sollte sich damit auseinandersetzen. Man muss nicht alles genauso wie damals machen, aber man sollte respektieren, was vor einem kam.
Geschichte ist offensichtlich dein Ding, du studierst Kunstgeschichte – gibt es einen historischen Fun-Fact über Graffiti, den du in der Uni gelernt hast?
Was vielleicht nicht allen bewusst ist, ist, dass Graffiti einfach schon sehr, sehr lange existiert. Schon bei Ausgrabungen in Pompeji wurde Graffiti gefunden. Da haben Leute genauso banale Dinge an die Wände geschrieben wie heutzutage. Zum Beispiel irgendeinen Namen und “war hier”. Ich finde es irgendwie schön, dass das heute noch genauso ist.
Gibt es einen Lieblingsmoment in deiner bisherigen Graffiti-Laufbahn?
Das war tatsächlich letzte Woche, als ich mit einer Freundin malen war. Vor zwei Monaten war ich schonmal mit ihr unterwegs und hatte einen Sketch dabei, bei dem ich mir richtig viele Gedanken gemacht hatte. Ich dachte, es würde richtig gut aussehen und es sah richtig, richtig schlecht aus (lacht). Ich war so unzufrieden, weil es einfach nicht funktioniert hat, das, was ich auf Papier oder digital male, eins zu eins an der Wall umzusetzen. Vor einer Woche habe ich dann einen neuen Style ausprobiert. Es sah richtig gut aus und ich weiß jetzt besser, in welche Richtung ich gehen möchte.


Wenn du dann doch mal illegal unterwegs bist – um was für ein Gefühl geht es dir dabei?
Bei mir geht es vor allem um das Rausgehen aus der Komfortzone und das Adrenalin. Ich weiß, ich muss wirklich schnell malen und aufpassen. Deswegen gehe ich auch nie alleine los, sondern mit einer anderen Person, die guckt, wenn ich male und andersherum. Es macht einfach richtig viel Spaß, weil ich weiß:
„Das ist jetzt meine Fläche, die nehme ich mir einfach, auch wenn sie mir eigentlich nicht zusteht.“
Ich habe das Gefühl, dass es anderen Leuten auch ein bisschen darum geht – um diesen sehr extremen Ausdruck für die eigene Person, für die eigene Kunst. Das wird dann ja von unfassbar vielen Leuten gesehen. Und um das Risiko, das man auf sich nimmt, um sich ausdrücken zu können.
Es geht also auch um ein Hinterfragen von öffentlicher Fläche und Eigentum. Hast du persönliche Regeln, an was für Gebäude du malst und an welche nicht?
Bei normalen Häusern finde ich das eigentlich immer ok. Die sehen eigentlich immer besser mit Graffiti aus als ohne, weil sie damit die Stadt ein bisschen bunter machen. Das kann die Leute zwar stören, aber dann können sie ja drüber malen. Bei Denkmälern sollte man aber gucken, was es für ein Denkmal ist. Es gibt durchaus welche, bei denen es mich nicht stört, wie zum Beispiel in Belgien diese Denkmäler von Leopold II*. Aber hier in Darmstadt bei den Holocaustdenkmälern würde ich sagen: Auf gar keinen Fall. Es gibt auch Diskussionen, wie man zu Kirchen steht. Ich bin zwar nicht gläubig, trotzdem hätte ich eine Hemmung, an eine Kirche zu malen. Aber vielleicht auch eher aus meiner kunsthistorischen Perspektive. Eine Kirche ist so alt und dadurch schon ein wertvolles Gebäude. Deswegen würde ich generell bei denkmalgeschützten Gebäuden nicht drangehen.
*Anmerkung der Redaktion: Leopold II. war von 1865 bis 1909 König von Belgien und verantwortlich für die brutale Kolonialherrschaft im Kongo, bei der Millionen Menschen starben. Seine Denkmäler werden heute oft mit antirassistischen Botschaften gekennzeichnet, weil sie als Symbole kolonialer Gewalt und Unterdrückung gelten.
Was wäre dein Traum-Ort oder Traum-Gebäude für ein eigenes Graffiti?
Die meisten Sprayer*innen würden wahrscheinlich antworten: Die Pariser Metro. Das ist für viele ein Traum. Für mich ist das noch unerreichbar, weil ich noch nie an Züge gemalt habe. Aber in Paris unterwegs zu sein und dann eine Metro vorbeifahren zu sehen, an die ich gesprüht hätte – das wär schon ziemlich krass. Irgendwann fang ich vielleicht auch damit an. Das wird bestimmt meine Eltern freuen (lacht).

Vielleicht noch mal auf Darmstadt bezogen: Welche Veränderung würdest du dir für die Graffiti-Szene hier wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass sich die Szene ein bisschen öffnet. Ich kann natürlich verstehen, dass es bei Subkulturen wichtig ist, den Zugang nicht zu einfach zu gestalten, um Regeln in Ruhe weitergegeben zu können und den subkulturellen Aspekt zu erhalten. Aber ich finde es für FLINTA* schon sehr schwierig, da reinzufinden. Ich würde mir wünschen, dass diese wirklich starken patriarchalen Strukturen nicht immer verteidigt werden, egal ob das jetzt offen oder unterschwellig passiert.
„Da wird einem dann von Typen gesagt: ‚Du malst aber gut, das hätte ich gar nicht gedacht’“
oder “Für eine Frau ist das ja voll cool.” Das ist teilweise sehr unangenehm.
Was würdest du einer FLINTA*-Person raten, die mit Graffiti anfangen möchte?
Ich würde allen raten, im Internet zu recherchieren. Es gibt zum Beispiel FLINTA*-Graffiti-Workshops oder Gruppen, denen man sich anschließen kann. Sisterhood Graffiti finde ich auch sehr hilfreich. Die sind auf Instagram aktiv und sorgen für mehr Sichtbarkeit von FLINTA* und FLINTA*-Crews. Die Toygirls-Crew teilt manchmal auch auf Instagram FLINTA*-Graffiti-Jams. Das wird natürlich immer von FLINTA* organisiert, weil man es eben selbst in die Hand nehmen muss. Aber ich finde es gut, dass sich das mehr ausbreitet.
Danke für deine Zeit!



