Mut zum Streit: “Die Kunst der Beziehung steckt in der Krisenbewältigung”
von Nina Schermal
Nach einem Streit kommt das Aus? Der Darmstädter Gestalttherapeut und Paarberater Ralf Grabowski über die Voraussetzungen für eine gesunde Beziehung, die Bedeutung einer gesunden Streitkultur und -prävention.
Seit 2015 sind Sie in der Paarberatung tätig. Gibt es einen wiederkehrenden Grund, der Krisen auslöst?
Der häufigste Grund für Krisen ist mangelnde Kommunikation. Es gibt immer wieder Momente in Beziehungen, in denen der Faden, die emotionale Verbindung zwischen den beiden Partnern, dünner wird. Das führt zu Spannungen und Krisen.
Wie alt sind Ihre Klient*innen?
Die jüngsten Paare, die kommen, sind in ihren Dreißigern, obwohl ich auch ein Paar berate, das 80 Jahre alt ist. Die Mehrheit ist im Mittelfeld und kommt entweder, wenn ihre Kinder noch ganz klein oder schon aus dem Haus sind.
Wie läuft so ein Gespräch bei Ihnen ab?
Meistens heißt es “Wir können nicht miteinander reden” oder “Wir müssen an der Kommunikation arbeiten”. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Man sieht nur, was über der Wasseroberfläche ist. Dann geht es auf Tauchgang: Wir stoßen auf alte Verletzungen, Kränkungen, mangelnde Wertschätzung, viele vergangene Geschichten und Dinge aus der Kindheit. Das sind teilweise Aspekte, die mit der Beziehung gar nichts zu tun haben, sich allerdings in der Partnerschaft hochschaukeln. Das erste Thema, mit dem Paare kommen, ist aber meistens nicht der Ursprung der Krise.
Was macht eine gesunde Beziehung aus?
Eine Voraussetzung ist vor allem emotionale Unabhängigkeit. Wenn man sich nicht mehr auf Augenhöhe begegnet, entsteht ein Ungleichgewicht. Es ist wichtig, dass man den anderen mag und liebt, aber nicht mit ihm zusammen sein muss.
Ansonsten: Ein gutes Mittelmaß an Neuem und Fremdem. Nach meiner Erfahrung ist es notwendig, dass man Grundwerte miteinander teilt. Zu viel Gleichklang ist aber auch nicht gut, weil es sonst langweilig werden könnte. Ich glaube, Paare, die gut miteinander reden können, sind im Vorteil. Ein gesundes Maß an Selbstreflektion und Selbstbewusstsein, aber auch Redebereitschaft und -kompetenz sind wichtig. Lust auf Veränderung und Interesse an der Meinung und Weltanschauung des Anderen zu zeigen, neugierig zu bleiben.
Rätst du Paaren auch zu Trennungen?
Mein Job ist es, für Klarheit zu sorgen, “Leitplanken” zu bieten und Gespräche zu moderieren. Eine Paartherapie ist für mich auch dann erfolgreich, wenn die Klient*innen entscheiden, sich zu trennen. Denn das bedeutet im Umkehrschluss: Unter der Wasseroberfläche ist so viel, das nicht funktioniert oder nicht mehr passt. Das Paar sollte respektvoll miteinander umgehen, Konfliktthemen bearbeiten und sich verständigen können. Gut streiten ist wichtig.
Inwiefern gut streiten?
Die Herausforderung im Alltag ist, die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Es ist leichter, jemanden anzubrüllen, als in den Austausch mit sich selbst zu gehen und sich zu fragen: Was nervt mich gerade wirklich? Was wäre mein Wunsch oder meine Forderung für die Zukunft? Die Kunst der Beziehungen steckt in der Krisenbewältigung: Wie bekomme ich zwei verschiedene Bedürfnisse unter einen Hut? Der*die eine möchte oder braucht dies, der*die andere etwas anderes. Sowas ist normal: Ein Teil steht gerne früh auf, der andere schläft aus. Das ist weder richtig, noch falsch. Es ist nur unterschiedlich – und damit per se konfliktträchtig.
Wie kann man diese Spannungen vermeiden?
Krisen gehören in Beziehungen dazu und sind auch erstrebenswert. Eine Beziehung ohne Konflikte ist nicht vorstellbar. Streiten bedeutet: Ich sehe Dinge anders als mein*e Partner*in. Falsches Streiten sieht man bei Diskussionen von Politiker*innen. Da sitzen Leute, deren Meinung nach dem Streit unverändert bleiben soll und auch bleibt. Gutes Streiten bei einem Paar bedeutet zunächst, für sich selbst zu sprechen. Zu wissen, was ich brauche, will und mir wünsche. Der zweite Punkt lautet: Zuhören. Was will mein*e Partner*in? Wofür steht er*sie, was braucht und möchte er*sie? Dann muss man gemeinsam nach einer Lösung suchen. Wichtig ist, aus Streits möglichst in einer Win-Win-Situation herauszugehen. Das Ziel sollte nie sein, dass eine*r gewinnt und eine*r verliert. Wenn das passiert, verlieren beide, weil dann die Beziehung brüchig wird.
Hast du Tipps, wie man einen Streit bewältigen kann?
Nicht nach 22 Uhr streiten. Wenn man am nächsten Tag um sieben Uhr aufstehen muss, ist es nicht sinnvoll, so spät zu diskutieren. Je müder ich werde, desto weniger Zugriff habe ich auf meine Ressourcen. Desto schneller reagiere ich genervt, ausfallend oder spreche in Du-Botschaften. Nicht im Bett oder im Schlafzimmer streiten. Das sollte ein sicherer Ort bleiben. Und wenn nach 20 Minuten Streit kein Kompromiss kommt, findet man den auch nicht nach 30, 40 oder 50 Minuten. Es ist auch okay zu sagen: Wir vertagen den Streit und machen in zwei Tagen ein Date, bei dem darüber gesprochen wird. So haben beide Parteien Zeit zum Nachdenken und Dampf ablassen.
Das setzt natürlich voraus, dass beide Parteien an einem Strang ziehen und wirklich an einer Lösung arbeiten wollen.
Dazu muss man ja auch erstmal kommen. Die Voraussetzung für einen guten Streit ist eine hohe Selbstverantwortung. Seine Bedürfnisse benennen und für sie einstehen, aber sie genauso hinterfragen können. Es ist immer schwierig, eine gute Lösung hinzukriegen, manchmal sogar unmöglich. Wichtig ist, aufeinander zuzugehen und einen gemeinsamen Umgang zu finden. Vielleicht wird es aber auch nie einen guten Kompromiss geben und das Problem wird immer eine offene Wunde bei dem Paar bleiben. Grundsätzlich sind Ich-Botschaften hilfreich: Mir geht es soundso. Ich finde das soundso.
Das klingt irgendwie künstlich, oder?
Das klingt nur so, weil es für viele eine ungewohnte Art des Miteinander-Redens ist. Aber ich glaube, dass man so gut streiten kann.
Wann ist es zu spät, zur Paartherapie zu gehen?
Den genauen Zeitpunkt kann ich nicht definieren. Aber wenn der Eisberg unter der Wasseroberfläche zu groß ist, ist es zu spät. Dann gibt es zu viele unverheilte, offene Wunden zum Aufarbeiten, der Groll ist zu groß. Wenn man sich nicht mehr in die Schuhe des anderen hineinversetzen kann oder will, wird es zu schwer, miteinander zu arbeiten, weil das Verständnis für den*die Partner*in weg ist.
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