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100 Minuten

Von Maike Dorn

Illustration: Karoline Hummel

Sieben Menschen sitzen in einem Stuhlkreis und schweigen sich an. Dieses Schweigen, die Stille in diesem Raum, ist für mich jedes Mal aufs Neue unangenehm. Warum sagt niemand etwas? Was könnte ich sagen, um die Stille zu durchbrechen? Mir fällt nichts ein, das macht mich nervös. Mein Blick wandert durch die Runde und wieder wundere ich mich darüber, wie unterschiedlich wir sind. Trotzdem sitzen wir hier – Woche für Woche, jeden Mittwochabend.

Magnus, neben mir, ist ein sehr großer Mann – technisch-pragmatisch und etwas jähzornig, aber auf seine Weise sensibel und verletzlich. Magnus hat bei seinen Erzählungen immer so eine Art, sich in unwichtigen Details zu verlieren und uns alle abzuhängen. Ich habe einmal zu ihm gesagt, er solle seine Erzählungen eher aufbauen wie einen guten Film: mit Spannungskurve und Höhepunkt.

Am Fenster sitzt Andre, der von seiner Ex-Frau geschieden ist und heute mit einem Mann zusammenlebt. Die Tochter aus erster Ehe sieht er regelmäßig, der Sohn will keinen Kontakt mehr. Andres häufigste Reaktion auf eine Erzählung eines Gruppenmitgliedes kenne ich mittlerweile: „Und wie hast Du Dich dabei gefühlt?“ Er sorgt immer dafür, dass wir unseren Emotionen Beachtung schenken.

Lydia ist Mitte dreißig und Wissenschaftlerin. Sie hat im Ausland studiert, mehrere Doktortitel in Chemie, eine steile Karriere, einen liebevollen Mann. Lydia weint am häufigsten von uns. Wir beide sind uns sehr ähnlich: Schwierige Familie, Gefühle von Minderwertigkeit, depressive Episoden und viel Einfühlungsvermögen.

Neben ihr sitzt Thomas. Thomas fasziniert mich. Er hat einen Irokesen-Haarschnitt, trägt viele große Silberringe an den Fingern und im Gesicht eine randlose rechteckige Brille, die ihm etwas Intellektuelles verleiht. Diese Brille passt so wenig zu seinem restlichen Äußeren, wie sein Beruf – er arbeitet als Beamter an einer Schule, in der Schulleitung. Man merkt schnell, dass Thomas intelligent und lösungsorientiert denkt. Mit seiner Direktheit zielt er im Gespräch auf unsere Schwachpunkte und trifft meistens genau in Schwarze.

Susi arbeitet aufgrund immer wiederkehrender Depressionen schon lange nicht mehr in ihrem Beruf als Ärztin. Susi ist kompliziert – eine Denkerin, keine Macherin. Einmal erzählte sie davon, öfter spazieren gehen zu wollen und Thomas sagte ihr, sie solle nicht erst ein Buch über das Spazierengehen lesen, sondern einfach spazieren gehen.

Und dann gibt es noch mich. Die kleine blonde Studentin, das Küken dieser Gruppe. Wie bei vielen war das frühe Erwachsenenalter für mich geprägt von Verlorenheit und Orientierungslosigkeit. Ich musste vieles aus meiner Vergangenheit aufarbeiten, um die Kontrolle über mein Leben zurück zu bekommen, die ich kurzzeitig total verloren hatte. Vor fast einem Jahr war die Überwindung in der Gruppe das Wort zu ergreifen unglaublich groß, doch es wurde leichter. 

Ich weiß sehr viel über die Menschen in diesem Raum, die ich im realen Leben vermutlich niemals kennengelernt hätte, aber etwas verbindet uns: Wir haben Probleme.

„Und, was gibt es heute für uns zu tun?“, unterbricht schließlich die Therapeutin die Stille.

Am Anfang der Gruppentherapie fällt es häufig schwer, einen Anfang zu finden. So auch heute, doch im Laufe des Abends hat immer irgendjemand irgendetwas zu erzählen. Genau dafür sind wir schließlich hier. Thomas erzählt von einem Traum. Darin sprach er mit seiner verstorbenen Ex-Frau und fragte sie, ob er alles richtig gemacht habe bei der Organisation ihrer Beerdigung. Den sonst so selbstsicheren und souveränen Thomas hat ihr plötzlicher Tod sehr verunsichert. Magnus erzählt wieder ausschweifend von Problemen im Büro und Lydia von Problemen mit ihrem Bruder, der auf die schiefe Bahn geraten ist und von ihrer Verzweiflung darüber. Ich berichte von Konflikten mit meiner Schwester aus unserer Jugend.

Vor meinen Freunden und meiner Familie bezeichne ich es immer als meine „Gesprächsgruppe“. Der Begriff „Gruppentherapie“ ist mir zu schwer, zu vorbelastet und zu abstrakt. Eigentlich tun wir nichts anderes, als im Kreis zu sitzen und miteinander zu sprechen. Es gibt Regeln, aber nicht viele. Wir gehen aufeinander ein, wir lassen einander ausreden, jeder kann erzählen, was er möchte und jeder wird ernst genommen. Einer erzählt, die anderen kommentieren. Die Therapeutin mischt sich selten ein. Mehr ist es nicht. Wir reden uns die Dinge von der Seele und wir reflektieren zusammen. Es ist für mich jedes Mal eine enorme Bereicherung an Gedanken und Erfahrungen.

Nach 100 Minuten ist die Gruppentherapie vorbei. Wir stehen auf, wünschen der Therapeutin einen schönen Abend und gehen nacheinander das Treppenhaus hinunter. Wir treten aus der Haustür und hinter dem Gartentor trennen sich unsere Wege.

Ich brauche nur etwa zehn Minuten zu Fuß bis zu meiner WG. Auf dem Heimweg, den ich nun schon so oft gegangen bin, haben mich schon die verschiedensten Emotionen begleitet: Traurigkeit, Erleichterung, Verzweiflung, Freude. Häufig bin ich müde. Diese 100 Minuten sind anstrengend. Das Reden über meine tiefsten Ängste, meine Gedanken und meine Gefühle kostet Kraft. Aber ich habe jedes Mal wieder das Gefühl, durch die Kommunikation mit anderen einen großen Fortschritt gemacht zu haben.

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