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Auf den Spuren einer Utopie

von Andreas Cevatli

Die Darmstädter Ortsgruppe der “Architects 4 Future” setzt sich für nachhaltigen Wandel im Bausektor ein. Andreas Cevatli, Student der Hochschule Darmstadt, hat einen Stadtspaziergang der Organisation besucht und seine Eindrücke in einer Reportage festgehalten.

Zwei Häuser mit Bäumen auf den Dächern und einer Rutsche.
Illustration: Karoline Hummel

Noch spaziert hier niemand. Stattdessen drängen sich schätzungsweise fünfzig Menschen unter  die Platanenbaumoase inmitten der Betonwüste am Darmstädter Ludwigsplatz. Die Anwesenden  tragen Uniform: Safari-Shorts, Sommerhemden und Sandalen. Freche Nickelbrillen werden  zurechtgewiesen. Sie versuchen den schwitzigen Nasen ihrer Träger:innen zu entfliehen. Den  schorfigen und abgewetzten Platanen ist es ebenfalls zu heiß. Sie stehen unweit eines  leergeräumten Geschäfts. Vielen Läden hier droht das gleiche Schicksal. 

„Wir stehen am Anfang eines Transformationsprozesses“, ruft Kathrin Hitziggrad den  Anwesenden zu. Sie steht auf einer Holzbank, die ihr als Podest dient. Gegenüber thront  unbeeindruckt die Bismarckstatue. Hitziggrad ist Leerstandsexpertin aus Jena, hat mit dem  „Blank“ eine eigene Agentur für Zwischennutzung. Sie selbst bezeichnet sich jedoch lieber als das fehlende Puzzleteil zwischen Hausbesitzer:innen und Hausbenutzer:innen. Ein Mikrofon hat sie  nicht, muss sich mühsam gegen den Lärm der Stadt stemmen. Die Menge hört auf zu tuscheln  und wendet sich ihr gespannt zu. Selbst Passant:innen halten in der Bewegung inne. „Das  klassische Innenstadtversprechen ist in die Jahre gekommen. Heute sind Mischkonzepte und  raumgeleitete Perspektiven gefragt. Zwischennutzung kann hier die Lösung sein.“  

Hitziggrad wurde von der Darmstädter Ortsgruppe der Architects 4 Future als Rednerin  eingeladen. Die Zukunftsarchitekt:innen sind einer der unzähligen Seitenflüsse, die der  umweltaktivistischen „4 Future“ – Quelle entspringen. Die Subgruppierung setzt sich für einen  nachhaltigen Wandel im Bausektor ein. Sie wollen den aussterbenden Innenstädten etwas  entgegensetzen. Deshalb haben sie zum utopischen Stadtspaziergang aufgerufen. „Das Problem  bei der Zwischennutzung ist der Zugang zu Räumen“, fährt Hitziggrad fort, „hier muss noch sehr  viel Sensibilisierungsarbeit geleistet werden. Das Besetzer:innenimage hängt der  Zwischennutzung oft noch nach.“ Die Zuhörer:innen pirschen sich in der Zwischenzeit weiter  heran, um sie besser hören zu können. „Dritte Orte und Maker Spaces können den Innenstädten  neues Leben einhauchen“. Vor allem in skandinavischen Ländern sind diese Gemeinschaftsorte  schon fest im Städtebild verankert. Dort dienen sie als soziale Treffpunkte für alle Altersklassen.  In Zentraleuropa sind diese hingegen noch Neuland. „Solche sozialen Kreativlabore und  Kulturtreffpunkte eignen sich perfekt zur Zwischennutzung – und oft kommen sie bei der  Bevölkerung so gut an, dass die Verträge verlängert werden. Spätestens wenn sich die Stadt  miteinschaltet, erzielen wir große Erfolge. Es geht was!“ Sie tritt von der Bank herunter. 

Ein kurzer Moment der Stille. Dann tausendfach wiederhallender Applaus: „Klapp, klapp, klapp“!  Von den tiefen Häuserschluchten der umliegenden Gebäuden erst absorbiert, multipliziert und  schlussendlich energisch zurückgeworfen, wirkt die Resonanz imposant und umarmend.  Hitziggrads Rede entfacht Begeisterung bei den Zuhörer:innen. Konstruktive Denkansätze statt  akademische Hybris. Das kommt an.  

„Uuuuund los!“, ruft jetzt ein junger Mann mit langen Haaren und buntem „A4F“-Schild in den  Händen den Utopist:innen zu. Bereitwillig setzt sich die Kolonne in Bewegung. Einzig die müden  Platanen verweigern sich dem Spaziergang. Über das illArt, einen kontemporären Ausstellungsraum für lokale Kunst, der für erfolgreiche  Zwischennutzung steht, geht es zum wohl aufregendsten Leerstand der Stadt: dem ehemaligen Bürger- und Ordnungsamt. Lange Gänge, kleine Räume – Klaustrophobie auf vier Stockwerken. Darmstädter:innen kennen das Gebäude gut. Benötigt man Reisedokumente oder will versuchen, sich aus einem Strafzettel herauszureden, ist man hier richtig.  

Jetzt ist Interaktivität gefragt. Schnell werden Klemmbretter, Zettel und Stifte verteilt. Ein  sogenanntes Futures Wheel, eine moderne Version einer Assoziationskette, das ein bisschen wie eine Pizza aussieht, ist auf den Papieren gedruckt. Die Spaziergänger:innen sollen sich jetzt  ausleben und über mögliche Zwischennutzungskonzepte nachdenken. In wenigen Minuten  verwandeln sie den leblosen Parkplatz vor dem Gebäude zum Mitmach-Think-Tank. Dass einer 

der Initiatoren explizit darum bittet, nicht nur ernste Antworten aufzuschreiben, lassen sich die  Leute hier nicht zwei mal sagen. Es wird gekritzelt und gelacht, geschrieben, gestrichen und laut  gedacht. Das gewollt wilde Kleingruppen-Brainstorming bringt neben seriösen Ergebnissen, wie  dem Wunsch nach Co-Working-Spaces oder Künstler:innenateliers, auch aberwitzige  Absurditäten hervor. Eine städtische Rollschuhdisko wird zum Beispiel vorgeschlagen, die Vorteile eines Bällebades diskutiert oder über die Machbarkeit eines Wasserrutschenparadies  mit Büroanbindung gefachsimpelt. Die Architekt:innen der Zukunft nehmen sich nicht zu ernst.  Kreativität braucht Raum – und hin und wieder einen kühlen Schattenplatz. Platanen oder andere  Bäume sucht man hier jedoch vergebens. Abgeklebte Schaufensterfronten gibt es dafür zuhauf.  

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