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Für “den letzten Heiner”

von Christoph Pfeiffer (20.11.2024)

Als das Martinsviertel auf die Straße ging 

Der Geruch von Ruß und Benzin macht sich breit, Motorengeräusche bahnen sich ihren Weg durch das Viertel. Seitdem die vierspurige Autobahn das Martinsviertel zweigeteilt hat, hat sich das Leben im Darmstädter Norden verändert. Mit Charme behaftet und lebendig – das war einmal. Das ehemalige Arbeiterquartier gleicht heute einer lauten und grauen Durchgangsstraße. Vorbei sind die Zeiten, als es noch für seine Jugendstil-Altbauten und Kopfstein-Gassen bekannt war. 

Illustration: Margo Sibel Koneberg

Klingt nach einem schlechten Scherz? Richtig. Beinahe wäre diese Dystopie jedoch Realität geworden: 1964 bereits im Generalverkehrsplan der Stadt Darmstadt eingezeichnet, beschloss die Stadtverordnetenversammlung 1972 die sogenannte Osttangente. Um den Rhönring zu entlasten, sollte hier eine vierspurige Straße entstehen, die die Pendlerströme aus den umliegenden Ortschaften in die Kernstadt leitet. Dass die Straße das Martinsviertel durchkreuzen und über 200 Menschen ihre Häuser verlassen sollten, damit diese abgerissen werden konnten, das nahmen die Stadtverordneten für ihr Bauvorhaben in Kauf. 

“Einfaches Viertel” rückt zusammen 

Die 70er Jahre im Martinsviertel waren unbekümmert: Wenig Verkehr, viele Kinder. “Wir sind mit unseren Kettcars um die Blocks gefahren oder haben uns Schneeballschlachten geliefert”, erinnert sich Markus Arndt – ein “echter Heiner”, der im Viertel aufgewachsen ist. Der damals heruntergekommene und noch unsanierte Stadtteil wurde durch alteingesessene Familien und mittelständische Betriebe geprägt. “Man hat sich damals in Ruhe gelassen”, erzählt der 54-jährige. Dass das “einfache Viertel”, wie Arndt es nennt, im Zweifelsfall umso enger zusammenrücken konnte, bewies es, als die Pläne der Osttangente öffentlich wurden. 

Mit dem Ziel, die Pläne zum Bau der Osttangente zu verhindern, zog die “Wählergemeinschaft Darmstadt” (WGD) 1976 in das Stadtparlament ein. Das Straßenbauprojekt erlangte einen politischen Symbolcharakter. In den Monaten darauf organisierte sich eine Bürger:inneninitiative und rief zu Demonstrationen auf. Treffpunkt der Protestbewegung war eine Weinstube in der Liebfrauenstraße, heute bekannt als “Weinkontor Blaise”. Als 1977 trotz aller Bemühungen die ersten Bagger anrollten und nördlich des Rhönrings mit den Bauarbeiten begannen, wurden die Proteste lauter. 

Ein Viertel wird zu Grabe getragen 

“Auf dem Rhönring gab es damals eine Sitzblockade. In meiner Erinnerung waren da extrem viele Leute“, erzählt Arndt. Mit seinen Freund:innen ging auch der Zehnjährige damals auf die Straße. Die eindrucksvollen Bilder sind ihm in Erinnerung geblieben: “Die komplette Arheilger Straße war beflaggt. Fast jeder Haushalt hatte Fahnen mit Protest-Slogans aus dem Fenster hängen.” Laut rufend liefen Protestierende durch das Viertel. Auf den Schultern ein großer, dunkler Sarg mit der Aufschrift “Der letzte Heiner!”. Die Kernaussage: Dieses Viertel ist es Wert, dafür zu kämpfen. 

Inzwischen konnte die Wählergemeinschaft im Stadtparlament erste Akzente setzen: Mit dem Argument, dass die Osttangente nur der Geschäftswelt in der Innenstadt diene und große Käufer-Massen in kürzester Zeit herankarren werde, plädierte sie gegen das Straßenbauprojekt. Mithilfe einer Verkehrserhebung von Studierenden der Technischen Universität Darmstadt unterstrich die Partei ihre Prognose. SPD und FDP wechselten schon bald auf die Seite der WGD, nur die CDU versuchte weiter beharrlich das “Zerstörungswerk”, wie es die Bürger:inneninitiative bezeichnete, durchzuboxen. Klare Worte dazu waren auf einem Flugblatt zu lesen: “Was zählt, ist der Kampf der Bevölkerung. Davor allein haben die Bonzen und Volkszertreter im Magistrat Angst.” 

Osttangenten-Blues: Sound des Widerstands 

Die Demos im Viertel gingen weiter: “Viele von den Leuten, die die Proteste organisiert hatten, gehörten zur damaligen Friedensbewegung. Ich weiß noch, dass die immer Musik gemacht haben”, erinnert sich Arndt. Damals ikonisch: Der “Osttangenten-Blues”. Für 16 D-Mark in den örtlichen Schallplattenläden erhältlich, war der Osttangenten-Blues eine Langspielplatte, die mit Liedern wie “Hiegugge”, “Wehrt Euch” oder dem “Darmstädter Bürgerlied” für Aufmerksamkeit sorgte. Mit einem Schriftzug, gemalt auf eine Wand im Viertel, unterstrich die Bürger:inneninitiative zusätzlich mit klaren Worten ihre Meinung: “Das Martinsviertel ist keine Schlachtkuh, die man zerhackt, zersägt und an den Meistbietenden verkauft!” 

Als der Druck für die Stadtverordneten im Oktober 1979 zunehmend größer wurde, kündigte Stadtbaurat Herbert Reißer eine schnelle Entscheidung an. Alle Parteien hatten sich inzwischen gegen den Bau der Straße positioniert – bis auf die CDU. In Folge der Diskussion strich der hessische Innenminister Ekkehard Gries Fördermittel zur Bebauung der Osttangente, um endgültig zu klären, ob die vierspurige Straße notwendig sei. Ein Jahr später war klar: Eine Osttangente durch das Martinsviertel wird es nicht geben – das beschloss die Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung. 

“Die Wohnqualität wäre weg gewesen, das hätte keiner gewollt”, sagt Arndt, als er sich vorstellt, wie ein Leben mit Osttangente im Martinsviertel ausgesehen hätte. Wie genau Abrissmaßnahmen, Pendlerströme und Verkehrslärm den Darmstädter Norden wirklich verändert hätten, das bleibt offen – eine Antwort hat das Watzeviertel-Urgestein trotzdem parat: “Ich bin froh, dass es nicht gemacht wurde.” Eine Entscheidung, die den Bürger:innen mit ihrem hartnäckigen Protest sowie der Wählergemeinschaft mit ihrer politischen Arbeit zu verdanken ist.

English version (automated translation):

For „The Last Heiner“

by Christoph Pfeiffer (20.11.2024)

When the Martinsviertel Took to the Streets

The smell of soot and gasoline spreads through the air, and the roar of engines echoes across the neighborhood. Since the four-lane highway split the Martinsviertel in two, life in the northern part of Darmstadt has changed. Once charming and vibrant, those days are long gone. What used to be a working-class district known for its Jugendstil architecture and cobblestone streets is now a noisy, gray thoroughfare.

Illustration: Margo Sibel Koneberg

Sounds like a bad joke? It nearly became a dystopian reality. First sketched in Darmstadt’s 1964 General Traffic Plan, the city council officially approved the so-called Osttangente (Eastern Bypass) in 1972. Designed to relieve the Rhönring, the plan called for a four-lane road channeling commuter traffic from surrounding towns into the city center. The fact that this road would cut through the Martinsviertel and force over 200 residents out of their homes—homes slated for demolition—was deemed an acceptable price for the project.

A „Simple Neighborhood“ Bands Together

The Martinsviertel of the 1970s was carefree: little traffic, plenty of children. “We used to ride our go-karts around the blocks or have snowball fights,” recalls Markus Arndt, a proud “Heiner” who grew up in the neighborhood. Back then, the area was rundown and unsanitized, shaped by long-established families and small businesses. “People left each other in peace,” says the 54-year-old. But the so-called „simple neighborhood,“ as Arndt describes it, showed just how tightly it could come together when the Osttangente plans became public.

Determined to stop the highway project, the Wählergemeinschaft Darmstadt (WGD), a citizens‘ political group, entered the city council in 1976. The project quickly became a political lightning rod. In the months that followed, a citizens’ initiative formed, organizing demonstrations. The hub of the resistance was a wine bar on Liebfrauenstraße, now known as Weinkontor Blaise. When bulldozers began construction north of the Rhönring in 1977 despite growing opposition, protests intensified.

A Neighborhood Laid To Rest

“There was a sit-in on the Rhönring. In my memory, there were so many people,” says Arndt. Even as a ten-year-old, he joined the demonstrations with his friends. The vivid images have stuck with him: “The entire Arheilger Straße was decorated with flags. Almost every household had protest banners hanging from the windows.” Protesters marched loudly through the neighborhood, carrying a large, dark coffin emblazoned with the phrase ‘Der letzte Heiner!’ (“The Last Heiner!”). The message was clear: This neighborhood is worth fighting for.

Meanwhile, the WGD began to make its mark in city council debates. Arguing that the Osttangente served only downtown businesses by enabling a rush of shoppers, the group opposed the highway. Their case was bolstered by traffic studies from students at the Technical University of Darmstadt. Soon, the SPD and FDP parties joined the WGD’s stance, leaving only the CDU to push for what the citizens’ initiative had called “a work of destruction.” Flyers were circulated with bold statements like, “What matters is the people’s fight. That’s the only thing the fat cats and false representatives in the council fear.”

Osttangenten Blues: The Sound Of Resistance

Protests continued in the neighborhood. “Many of the organizers were part of the peace movement back then. I remember they always played music,” says Arndt. Iconic at the time: the Osttangenten Blues. Available for 16 Deutsche Marks at local record stores, the LP featured songs like “Hiegugge,” “Wehrt Euch,” and “Darmstädter Bürgerlied,” drawing attention to the cause. The movement’s slogan was also painted on walls in the neighborhood: “The Martinsviertel is not a slaughter cow to be chopped, sawed, and sold to the highest bidder!”

As pressure mounted in October 1979, City Building Councillor Herbert Reißer promised a swift decision. By then, all political parties except the CDU had turned against the highway. In the end, Hessian Interior Minister Ekkehard Gries withdrew funding for the project to determine whether the Osttangente was truly necessary. A year later, the city council ruled: there would be no Osttangente cutting through the Martinsviertel.

“The quality of life would’ve been gone, and no one wanted that,” says Arndt, imagining what life in the Martinsviertel would have been like with the highway. Exactly how demolition, traffic congestion, and noise pollution would have altered northern Darmstadt remains a question. But Arndt has a clear answer: “I’m glad it didn’t happen.” This victory was thanks to the persistent protests of the neighborhood’s citizens and the political efforts of the Wählergemeinschaft Darmstadt. A united community ensured that the Martinsviertel retained its unique character—and spared itself the scars of a highway that nearly divided it forever.

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