Schau_dasta! – März
von Steffen Buchmann
Täglich prasseln neue Hiobsbotschaften auf uns ein, Krieg und Pandemie zehren die letzten Kraftreserven auf und bringen jeden Einzelnen an seine mentalen wie physischen Grenzen. Manche kompensieren das mit aufopferungsvollem Engagement bei Demonstrationen, Flüchtlingsunterbringung oder helfenden Händen bei allerlei Aktionen. Jedoch gilt es stets, die eigene mentale Gesundheit im Auge zu behalten und auch die eigenen Grenzen zu erkennen. Ein Mittel, um sich etwas Luft zu verschaffen und neue Kräfte zu sammeln, kann etwa der Eskapismus sein. Auch in Filmen bieten sich solche Schutzräume, in die wir uns zurückziehen und „einfach mal den Kopf frei kriegen können“. Daher möchte ich euch in der März-Ausgabe von „Schau_Dasta“ drei völlig unterschiedliche Welten anbieten, in die es sich lohnt, abzutauchen und die Welt um einen herum für kurze Zeit auszublenden. Viel Spaß beim Anschauen.
Animationsfilm: Das Geheimnis von Kells (2009)
Abt Cellach ist sich sicher: Wenn die Steinmauern um Kells erst einmal errichtet sind, können die mordlustigen Nordmänner ihm und den friedlichen Abteibewohnern nichts mehr anhaben. Doch sein junger Neffe Brendan interessiert sich mehr für die traditionelle Buchmalerei als für Kriegsarchitektur. Immer öfter sucht er Zuflucht im Wald vor den Abtei-Toren, wo er eines Tages auf den quirligen Waldgeist Aisling trifft und in eine unbekannte Welt abtaucht. Die irisch-französische Koproduktion „Das Geheimnis von Kells“ stellt das Erstlingswerk von Filmemacher und Zeichner Tomm Moore dar, dessen verspielte Zeichentrickmystik aus Erfolgsfilmen wie „Die Melodie des Meeres“ oder zuletzt „Wolfwalkers“ bereits hier zu überzeugen weiß. Durch seinen Protagonisten Brendan verhandelt der im Mittelalter angesiedelte Film die Gradwanderung zwischen naivem Kindsein sowie erzwungenem Erwachsenwerden in Krisenzeiten. Brendan flüchtet sich vor den strengen Regeln seines Onkels in das Scriptorium, in dem er gemeinsam mit einem kunstbegabten Bruder in die Kunst der Buchmalerei eintaucht. Genau wie deren verschnörkelte und grazile Zeichnungen lebt der Film der fantasievollen Gestaltung von Brendans Lebenswelt. „Das Geheimnis von Kells“ lädt zum Eintauchen und Verweilen ein und zeichnet mit feinem Pinselstrich eine Welt, die atemberaubend schön und zugleich grausam sein kann.
Stummfilm: Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922)
Vor 100 Jahren suchte Graf Orlok erstmals die Bewohner von Wisborg heim und brachte Tod wie Krankheit über die kleine Hafenstadt. Murnaus inoffizielle Dracula-Adaption nach Bram Stoker gilt bis heute als Meisterwerk des stummen Schauerfilms und bleibt diesem Ruf bis heute gerecht. „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ begründet den filmischen Ursprung des Vampirfilms, lange bevor Hollywood und Co. ihre eigenen Versionen ins Rennen schickten. Max Schreck als langfingriger Vampirfürst stolziert anmutig wie einschüchtern durch die gemalte Szenerie, untermalt von Hans Erdmanns eindringlicher Orchestrierung. Jeder Bildausschnitt wirkt sorgsam gewählt, Tag und Nacht werden nur durch die unterschiedliche Filmeinfärbung erkennbar. Murnaus Werk kreist um die Beständigkeit des Lebens, der Liebe und des Leids. So dient Graf Orlok zwar als Schreckgespenst, jedoch bekommen wir intensive Eindrücke in sein unsterbliches Dilemma, das ihn immer wieder sehnsüchtig zu den Menschen treibt. In jahrzehntelanger Restaurationsarbeit haben zahlreiche Archive, Museen und Restauratoren weltweit zusammengearbeitet, um die ursprüngliche Fassung von „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ nicht nur wiederherzustellen, sondern seinem kulturellen Erbe angemessen für spätere Generationen zu konservieren. Ein filmkultureller Meilenstein, den man gesehen haben muss.
Thriller-Serie: Calls (2021)
Jede Minute telefonieren weltweit zig Millionen Menschen miteinander. Verliebte flüstern sich kleine Liebesschwüre zu, Vertreter versuchen ihre Produkte an den Mann zu bringen, Freunde lachen gemeinsam über ausgegrabene Erinnerungen vergangener Kindheitstage. Doch was wäre, wenn während dieser Telefonate plötzlich die Welt unterginge? Filmemacher Fede Alvarez widmet sich in sieben Episoden eben solchen alltäglichen Telefongesprächen, die durch unerklärliche Geschehnisse ins Paranormale abdriften. Das Besondere an „Calls“ ist jedoch die ungewöhnliche Erzählstruktur, denn wir bekommen keinen der Protagonisten jemals zu sehen. Alles spielt sich über aufgezeichnete Tonspuren ab, die sich räumlich zueinander bewegen und so etwa Beziehungsdetails der Beteiligten zueinander visualisieren. Diese irre Mischung aus Formen, Farben und Mustern erinnert Nostalgiker an die bunt wabernden Animationen von Musik-Mediaplayern Anfang der 2000er. Die kurze Episodenlaufzeit ist hier angemessen, um die Konzentrationsfähigkeit des Zuschauers nicht zu überstrapazieren. Trotzdem offenbaren die intimen Geschichten um scheinbar zusammenhangslose Personen im weiteren Verlauf einige lose Fäden, deren Verwebung den Zuschauer unerwartet trifft. Mit „Calls“ hat Fede Alvarez definitiv ein Serienunikat geschaffen, dessen audiovisuellem Sog man sich nicht entziehen kann.
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