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„Und… warum sitzt du?“ „Ich habe abgetrieben.“

Von Rico Kammel (07.Feb.2025)

Das Schwangerschaftsgesetz in Polen ist umstritten. Abtreibungen sind praktisch gesetzlich verboten. Im folgenden Artikel stelle ich zwei Fälle vor, die Polen verändert haben. In Polen ist eine Debatte entstanden. Es geht um das Recht der Frau, das Recht am eigenen Körper und das Recht am Leben

Wer in Polen abtreibt, ist kriminell, denn Abtreiben ist in Polen gesetzlich verboten. Es ist damit bis auf Malta das einzige Land Europas mit einem derartigen Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen. In Europa lockern sich die Gesetze in dieser Thematik zunehmend. In Polen nicht. Im Oktober 2020 wurde das ohnehin strenge Schwangerschaftsgesetz weiter verschärft. Ursprünglich waren es drei Ausnahmen, bei denen eine legale Abtreibung möglich war. Jetzt sind es nur noch zwei: Wenn die Schwangerschaft durch Vergewaltigung oder Inzest entstand oder das Leben der Frau in Gefahr ist. Eine weitere Ausnahme fiel weg: Abtreibungen sind nun auch verboten, wenn der Fötus nicht lebensfähig ist. Und das, obwohl missgebildete, todkranke Embryonen auszutragen lebensbedrohlich sein kann.

Illustration: Ellie Haase

Der Fall Dorota Lalik – „Ani jednej więcej!“ – „Keine einzige mehr!“ 

Dorota Lalik starb drei Tage nach ihrer Krankenhauseinweisung an einer Sepsis. Sie wurde mit dem Austritt von Fruchtwasser in der 20. Schwangerschaftswoche eingeliefert. Ihr Gesundheitszustand wurde sukzessive schlechter. Kopfschmerzen, Erbrechen und Schwindel. Was auf den ersten Blick wie ein mögliches Symptom der Entbindung aussieht, ist auf den zweiten eine heftige Reaktion des Immunsystems. Und das wusste das behandelnde Personal wohl auch. 

Ihr Ehemann sagte später gegenüber polnischen Medien, dass die Ärzt:innen nie kommuniziert hatten, dass keine Chance auf ein gesundes Baby bestand. Mit einem Schwangerschaftsabbruch wäre zumindest Dorotas Leben zu retten gewesen. Diese Option wurde dem Ehepaar nicht offengelegt. Offenbar aus Angst der Ärzt:innen, sich strafbar zu machen. 

Es ist ein weiterer Tropfen auf dem heißen Stein in einer Debatte, die in Polen schon lange geführt wird. Immer wieder gibt es Fälle wie den von Dorota. Ausbleibende ärztliche Hilfe. Todesfälle. Regelmäßig demonstrieren in Polen Tausende gegen das Abtreibungsgesetz. „Ani jednej więcej!“ – „Keine einzige mehr!“, rufen die Demonstrierenden. Die Frauen in Polen haben Angst, fühlen sich im Gesundheitssystem nicht mehr sicher. Seit Oktober 2022 sind Ärzt:innen verpflichtet, eine Schwangerschaft in die elektronische Patientenakte einzutragen. Die Regierung argumentiert unter anderem damit, dadurch den 

Zugang zu Medikamenten sowie schnellere ärztliche Unterstützung zu gewährleisten. Die Schwangeren fühlen sich kontrolliert. Immer mehr Polinnen flüchten für ärztliche Versorgung in die Nachbarländer. Das kostet Zeit, Geld und Nerven. 

Der Fall Justyna Wydrzyńska -,,Aborcyjny Dream Team“ 

Eine Frau schickt einer Schwangeren in Not Pillen, um die Schwangerschaft abzubrechen und wird wegen „Beihilfe zu einem Schwangerschaftsabbruch“ von der Staatsanwaltschaft angeklagt und damit zum größten Präzedenzfall Polens. 

Das ist die Geschichte von Justyna Wydrzyńska. Sie wusste nur zu gut, wie sich die Frau in Not fühlte. Sie teilen das gleiche Schicksal. Justyna war einst selbst in einer Beziehung voller Gewalt. Die eigenen Kinder mussten dabei zusehen, wie der Vater sie verprügelte und terrorisierte. Drei Kinder hatte sie bereits, wollte keinem weiteren ein Leben in dieser Familie zumuten und brach damals die Schwangerschaft ab. Als sich die besagte Frau dann bei ihr meldete und von ihrer Geschichte erzählte, konnte Justyna nicht anders und musste ihr helfen. 

Später wird sie Mitgründerin von „Aborcyjny Dream Team“. Eine Organisation, die sich für die Legalisierung der Abtreibung in Polen einsetzt. Eine Anlaufstelle für Frauen, die in Polen Hilfe und Unterstützung rund um Schwangerschaftsabbrüche brauchen. Sie wollen den Betroffenen das Gefühl vermitteln, nicht allein mit der Situation und den Problemen zu sein. Es werden ,,Abtreibungspillen“ versendet oder gezielt dabei Frauen geholfen, Schwangerschaften in anderen Ländern abzubrechen. Laut eigenen Angaben konnten mit der Hilfe von „Aborcyjny Dream Team“ 44 Tausend Schwangerschaften erfolgreich abgebrochen werden. 

Der Fall von Justyna beschäftigt die Justiz noch immer. Zur Anklage kam es, weil die versandten Pillen die Frau in Not nie erreichten. Die Medikamente fing ihr Mann ab. Er kontrollierte und terrorisierte seine schwangere Frau rund um die Uhr. Nachdem er Justyna ausfindig machte, zeigte er sie an. Anklagepunkt: Beihilfe zu einem Schwangerschaftsabbruch. Es ist der erste öffentlich wirksame Fall in Polen rund um die Abtreibungsgesetze. Frauen und Aktivist:innen gehen auf die Straße. Für Justyna und für sich. 

Der Prozess verschiebt sich seit 2020 immer wieder. Haftstrafen von bis zu drei Jahren werden von der Staatsanwaltschaft gefordert. Justynas Verteidigung möchte einen Freispruch erreichen und argumentiert, dass sie im Rahmen der Menschenrechte handelte. Im März 2023 wurde ein erstes Urteil gesprochen: Acht Monate gemeinnützige Arbeit. Amnesty International bewertet die Entscheidung als „einen neuen, deprimierenden Tiefpunkt in der Unterdrückung der Frauenrechte in Polen.“ Justyna geht in Berufung. In diesem Prozess geht es schon lange nicht mehr darum, ein geeignetes Strafmaß zu ermitteln. Es geht um das Recht der Frau, das Recht am eigenen Körper, das Recht am eigenen Leben. 

„so… why are you in jail?
„I had an abortion.“

By Rico Kammel (07.Feb.2025)

Poland’s abortion law is highly controversial. Abortions are practically banned by law. In the following article, I present two cases that have changed Poland. A debate has arisen in the country—it is about women’s rights, bodily autonomy, and the right to life.

In Poland, abortion is a crime because it is legally prohibited. Alongside Malta, it is the only country in Europe with such strict abortion laws. While abortion laws across Europe are gradually loosening, Poland is moving in the opposite direction. In October 2020, the already strict abortion law was tightened even further. Previously, there were three exceptions allowing a legal abortion. Now, there are only two: when the pregnancy resulted from rape or incest, or when the woman’s life is in danger. One more exception was removed—abortions are now also banned if the fetus is not viable. This is despite the fact that carrying severely malformed, terminally ill embryos to term can be life-threatening for women.

Illustration: Ellie Haase

The Case of Dorota Lalik – „Ani jednej więcej!“ – „Not one more!“

Dorota Lalik died three days after being admitted to the hospital due to sepsis. She was hospitalized in the 20th week of pregnancy with amniotic fluid leakage. Her condition steadily worsened—headaches, vomiting, dizziness. What might initially seem like normal pregnancy symptoms was, on closer examination, a severe immune system reaction. The medical staff was likely aware of this.

Later, her husband told Polish media that doctors had never communicated that there was no chance of delivering a healthy baby. An abortion could have saved Dorota’s life. However, this option was never presented to the couple—apparently because doctors feared legal consequences.

Dorota’s case is just another drop in the ocean in a debate that has been ongoing in Poland for years. Time and again, cases like hers arise—lack of medical intervention, preventable deaths. Thousands of people regularly protest against Poland’s abortion law, chanting, „Ani jednej więcej!“—“Not one more!“ Women in Poland are afraid. They no longer feel safe in the healthcare system.

Since October 2022, doctors have been required to record pregnancies in an electronic patient file. The government claims that this measure ensures better access to medications and faster medical care. However, pregnant women feel surveilled. More and more Polish women are seeking medical care in neighboring countries. This costs time, money, and emotional strength.

The Case of Justyna Wydrzyńska – „Aborcyjny Dream Team“

A woman sends abortion pills to a pregnant woman in need and is charged by the prosecution with „aiding an abortion,“ making this Poland’s most significant legal precedent on the issue.

This is the story of Justyna Wydrzyńska. She knew exactly how the woman in need felt—they shared the same fate. Justyna had once been in an abusive relationship. Her children had to witness their father beating and terrorizing her. She already had three children and did not want to bring another into such a family environment. So she had an abortion.When the woman in distress reached out to her and shared her story, Justyna felt she had no choice but to help.

Later, she co-founded „Aborcyjny Dream Team,“ an organization advocating for abortion rights in Poland. It serves as a resource for women seeking information and support for abortions. Their goal is to make women feel less alone. They send abortion pills and help women access safe abortions abroad. According to their records, they have helped facilitate 44,000 abortions.

Justyna’s case remains unresolved in the courts. The charges arose because the abortion pills she sent never reached the woman in need—her abusive husband intercepted the package. He controlled and terrorized his pregnant wife around the clock. Once he found out about Justyna, he reported her. The charge: aiding an abortion.This case is the first high-profile legal battle concerning Poland’s abortion laws. Women and activists are taking to the streets—for Justyna and for themselves.

The trial has been postponed multiple times since 2020. Prosecutors are demanding prison sentences of up to three years. Justyna’s defense seeks acquittal, arguing that she acted within human rights standards. In March 2023, the first verdict was delivered: eight months of community service. Amnesty International called the ruling „a new, depressing low in the repression of women’s rights in Poland.“ Justyna is appealing the decision. But this case is no longer just about determining an appropriate sentence. It is about women’s rights. The right to control their own bodies. The right to their own lives.

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