„Manche kommen sogar im Benz angefahren“: Wegwerfgesellschaft im Wandel
von Jana Weiß

Die Sonne knallt erbarmungslos vom Himmel. Ein grauer VW-Bus steht vor der Rückseite eines bekannten Bio-Lebensmittelmarktes. Gabi* und Nadine* wischen sich den Schweiß von der Stirn und ziehen ihre Einmalhandschuhe an. Dann hieven sie den Inhalt der vierzehn am Boden stehenden Kisten in Kühltruhen. Das alles geschieht außer Sichtweite der Kunden, die währenddessen einkaufen und ihrem Alltag nachgehen. „Die Supermärkte wollen nicht, dass die Leute sehen, wie viele Lebensmittel sonst jeden Tag weggeschmissen werden“, sagt Nadine, „wir nehmen manchmal bis zu 45 Kisten mit. Heute sind es verhältnismäßig wenig.“
Die Initiative Foodsharing e.V. wurde 2012 gegründet und hat mittlerweile Standorte in jedem Bundesland, aber auch im Ausland, wie in Österreich und der Schweiz. Die Mission: Der Verschwendung von Lebensmitteln entgegenwirken. Deutschlandweit gibt es über 11.000 teilnehmende Betriebe und mehr als 100.000 freiwillige Foodsaver:innen. Davon 100 im Odenwald. „Immer noch viel zu wenig“, meint Gabi. Die zwei Foodsaverinnen sind seit fast vier Jahren freiwillig beim Foodsharing Odenwald Nord-West aktiv.
So landen eine ganze Kiste Bananen, verschiedenes Gemüse und Backwaren vom Vortag im Kofferraum von Gabis VW-Bus. Allesamt noch genießbar. Nadine seufzt: „Früher hat man nicht auf das Haltbarkeitsdatum geschaut. Wir haben doch Augen, Mund und Nase, um zu erkennen, ob was verdorben oder noch gut ist. Wir kommen manchmal jeden Tag her und holen Lebensmittel ab.“
Lebensmittelverschwendung ist längst kein kleines Problem mehr. Laut Statista werden alleine in Deutschland innerhalb eines Jahres zwischen 12 und 18 Millionen Tonnen an Lebensmitteln unnötig entsorgt (Stand: 2020). Eine Ursache dafür ist oft die fehlende Aufklärung über die aufgedruckten Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdaten auf den Verpackungen. Häufig spielt auch das Aussehen der Lebensmittel eine Rolle. Obst und Gemüse, das in Aussehen und Form vom Standard abweicht, wird oft von den Käufer:innen im Regal liegen gelassen.
Während die beiden Lebensmittelretterinnen eine Kiste mit Zitronen, Limetten und Orangen in den Bus laden, erzählen sie mir, dass es keinen Konkurrenzkampf unter den Foodsaver:innen gäbe. Die meisten Betriebe, die beim Foodsharing mitmachen, wären froh, dass sie so ihren „Müll“ loswerden können. „Trotzdem gilt: Tafel first. Die Tafel kommt zuerst und holt Lebensmittel ab, dann kommen wir und holen was übrig bleibt.“ Aber das sei mehr als genug.
Alleine im Odenwaldkreis wurden seit der Gründung 220 Tonnen Lebensmittel vor dem Müll gerettet. Doch nicht alle Supermärkte sind vom Foodsharing überzeugt. „Manche wollen da nicht mitmachen, oder finden blöd, was wir tun. Vor allem einige große deutsche Discounter. Das verstehe ich nicht“, sagt Nadine kopfschüttelnd, „die Supermärkte, die mitmachen, wollen meistens auch anonym bleiben.“ Auf die Frage nach den Namen der Discounter, lacht sie. „Ich glaube ich habe schon zu viel verraten. Die sind da sehr empfindlich und ich möchte keinen Ärger.“
Die Vermittlung zwischen den Foodsaver:innen und Märkten würde über die Zentralen laufen, die dann Kooperationsverträge aufsetzen. Die Lebensmittel würden abgeholt und privat verteilt werden. Öffentliche Verteiler gäbe es nicht. „Wir verteilen meistens von daheim in unserem Hof. Seit die Lebensmittel teurer geworden sind, kommen viel mehr Leute zu uns.” Und wirklich jeder könne sich Lebensmittel abholen. „Egal ob arm, reich oder obdachlos. Manche kommen sogar im Benz angefahren“, schmunzelt Nadine. Die Standorte für die privaten Verteiler und Informationen zum Foodsharing würden überwiegend über die sozialen Medien wie Facebook oder Instagram geteilt werden. „Falls doch mal was übrig bleibt, bekommen das die Landwirte aus der Umgebung für ihre Tiere. Bei uns landet nichts in der Mülltonne.“
Auch die deutsche Verbraucherzentrale warnt vor den Folgen der Lebensmittelverschwendung – denn diese wirkt sich nicht nur negativ auf den Welthunger, sondern auch auf das Klima aus. Eine Studie der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) belegt, dass jedes Jahr rund 4,4 Milliarden Tonnen Treibhausgase durch verschwendete Lebensmittel in der Atmosphäre landen.
Als alle Lebensmittel ihren Platz in Gabis VW-Bus gefunden haben, verabschiedet sie sich mit den Worten: „Ich fahre jetzt noch zu zwei anderen Märkten und nehme noch mal so viel mit. Das wird ein anstrengender Tag.“
Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt erzählt mir Nadine ihre Gründe für die freiwillige Arbeit als Foodsaverin. „Ich würde sagen, dass für mich am meisten der soziale Aspekt im Vordergrund steht. Klar mache ich mir auch Gedanken über die Umwelt, aber dann denke ich an die Menschen, denen wir mit unserer Arbeit schon helfen konnten. Ich möchte einfach, dass jeder genug zu essen hat.“
*Die Namen in diesem Artikel wurden geändert
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