„Die Hölle, das sind die Anderen“ – Eine Theaterkritik zu Sartres „Geschlossener Gesellschaft“
von Stay Eller (06.12.2023)
Info vorab: Das Stück kann noch am 06. (heute!) und am 08. Dezember im Hoffart Theater Darmstadt angesehen werden. Der Besuch des Stückes ist für Studierende der TU Darmstadt und der h_da kostenlos!
Das Reich der Finsternis: Fegefeuer, Folter und ewiges Martyrium. Für die meisten entsteht ein solches Bild, wenn es um den Begriff „Hölle“ geht. Jean-Paul Sartre verstand unter „Hölle“ jedoch „die Anderen“. Sein Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ wird aktuell in Darmstadt vom TUD Schauspielstudio aufgeführt.
Illustration: Margo Sibel Koneberg
Es gibt verschiedene Ansichten darüber, was nach dem Tod mit uns geschieht. Viele glauben an ein Leben nach dem Tod, an ein Wiedertreffen mit geliebten Menschen oder an ewige Qualen in der Hölle. Andere glauben an eine Wiedergeburt und wieder andere daran, dass danach einfach nur das große Nichts herrscht. Dass man jedoch in einem Hotelzimmer endet, ist bei allen vagen Vorstellungen dennoch eine der kurioseren. Für Jean-Paul Sartre wurde dieser Ort zum zentralen Schauplatz des Stücks „Geschlossene Gesellschaft“.
Die Türen des Hörsaals an der TU Darmstadt öffnen sich. Doch in den Warteraum davor tritt kein Professor, wie es sonst in diesen Räumlichkeiten üblich ist, sondern eine in eine purpurrote Pagenuniform gekleidete Person. „Hier entlang, meine Herrschaften“, raunt der Verkleidete dem wartenden Publikum zu, „es geht bald los.“ Mit diesen Worten begeben sich die Besucher:innen in den Wilhelm-Köhler-Saal der TU, welcher für diesen Abend zur „Hölle“ umfunktioniert wurde. Wer dabei an Teufel, Flammen und Folterqualen denkt, liegt falsch. Lediglich drei Couches, eine Rezeptionsklingel und eine Bronzestatue erwarten das Publikum vor dem weißem Theatervorhang auf der Bühne. Und die drei Protagonist:innen, die in dem Stück ihr Leben nach dem Tod in diesem „Höllenhotel“ fristen müssen.
Hölle ohne Folterknecht
Einen nach dem anderen bringt der Page die drei auf die Bühne: Zuerst Garcin, dann die beiden Frauen Inés und Estelle. „Uns hat vor allem die Ausgangssituation begeistert“, meint Constantin Sporleder, der sowohl als Regisseur als auch in Figur des Pagen am Stück beteiligt ist. „Die drei sterben, kommen in die Hölle und merken in dem Hotelzimmer, dass etwas fehlt.” Denn es gibt gar keinen Folterknecht in Sartres Hölle, den sie vielleicht erwartet hätten. Doch ist Sartres Adaption des Infernos deshalb weniger quälend? „Nein“, meint Constantin, denn „im Laufe des Stücks kommt heraus, dass die drei sich gegenseitig quälen, sie formen derartig toxische Beziehungen zueinander, dass sie für sich selbst die Hölle werden.” Dies zeigt sich auch im berühmtesten Geschlossene-Gesellschaft-Zitat aus Sartres Feder: „Die Hölle, das sind die Anderen.“
Der Mann hinter den Zeilen
Jean-Paul Sartre wurde 1905 in Paris geboren. Er gilt als Vordenker und Hauptvertreter des Existentialismus und als Paradefigur der französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Sartre schrieb zahlreiche Werke, darunter das Drama „Geschlossene Gesellschaft“ (frz. „Huis clos“), welches 1944 uraufgeführt wurde. Er sagte einmal, dass das Stück seinen Erfahrungen im Lager Stalag entsprang – dort war er in Kriegsgefangenschaft gewesen. Das dortige ständige Zusammensein und das Gefühl des ständigen Beobachtet-Werdens soll ihn dazu veranlasst haben, diese „Hölle” in einem Theaterstück zu verarbeiten.
Noch immer aktuell
Doch obwohl das Stück bereits vor 79 Jahren uraufgeführt wurde, behält es auch heute noch seine Aktualität. „Das Stück ist absolut zeitlos“, sagt Constantin. Auch in der heutigen Gesellschaft könnten ähnliche Dynamiken zwischen Menschen entstehen – „vielleicht sogar noch einmal verstärkt durch das Internet. Man wird ständig gesehen und verurteilt, ist ein offenes Buch.” Wir scheinen den drei Figuren im Stück also gar nicht mal so unähnlich zu sein – abgesehen von den schrecklichen Taten natürlich, die die Protagonist:innen überhaupt erst in die Hölle gebracht haben.
Die aktuelle Aufführung der „Geschlossenen Gesellschaft“ entspringt dem TUD Schauspielstudio, einem gemeinnützigen Theaterverein und der Hochschulgruppe der TU Darmstadt. Dieses Mal führte die Gruppe der vier Darstellenden Clara Brossmann, Constantin Sporleder, Josephine Molis und Nicolas Wiefelspütz Regie, doch auch im Hintergrund arbeiteten viele Leute daran, dass das Stück umgesetzt werden konnte. Es entstand eine überzeugende, interessante und auch humorvolle Version von Sartres Geschlossener Gesellschaft, die den französischen Existenzialismus ins winterliche Darmstadt bringt – zwar nicht mit wärmendem Fegefeuer, aber einer Aufführung, die die Gedanken anregt und sich richtig lohnt.
English version (automated translation):
„Hell is other people“
– A theater review of Sartre’s „No Exit“
by Stay Eller (06.12.2023)
Important: The play can still be seen on December 6th (today!) and 8th at the Hoffart Theater Darmstadt. The visit is free for students of the TU Darmstadt and the h_da!
The realm of darkness: purgatory, torture and eternal martyrdom. For most people, this is the image that comes to mind when it comes to the concept of „hell“. Jean-Paul Sartre, however, understood „hell“ to mean „the others“. His play „No Exit“ is currently being performed in Darmstadt by the TUD Drama Studio.
There are different views on what happens to us after death. Many believe in life after death, in a reunion with loved ones or in eternal torment in hell. Others believe in reincarnation and still others believe that afterwards there is simply nothingness. However, despite all the vague ideas, ending up in a hotel room is one of the more curious ones. For Jean-Paul Sartre, this place became the central setting for the play „No Exit“.
Illustration: Margo Sibel Koneberg
The doors of the lecture hall at TU Darmstadt open. However, it is not a professor who enters the waiting room, as is usually the case in these rooms, but a person dressed in a crimson pageboy uniform. „This way, ladies and gentlemen,“ the disguised man whispers to the waiting audience, „we’re about to start.“ With these words, the visitors make their way into the TU’s Wilhelm Köhler Hall, which has been transformed into „hell“ for the evening. Anyone thinking of devils, flames and torture is wrong. Only three couches, a reception bell and a bronze statue await the audience in front of the white theater curtain on stage. And the three protagonists who have to live out their afterlife in this „hell hotel“ in the play.
Hell without a torturer
One by one, the bellman brings the three onto the stage: first Garcin, then the two women Inés and Estelle. „We were particularly impressed by the initial situation,“ says Constantin Sporleder, who is involved in the play both as director and as the bellman. „The three die, go to hell and realize in the hotel room that something is missing.“ Because there is no torturer in Sartre’s hell that they might have expected. But does that make Sartre’s adaptation of the Inferno any less torturous? „No,“ says Constantin, because „in the course of the play it becomes clear that the three of them torture each other, forming such toxic relationships with each other that they become hell for themselves.“ This is also reflected in the most famous closed society quote from Sartre: „Hell is other people.“
The man behind the lines
Jean-Paul Sartre was born in Paris in 1905. He is considered a pioneer and main representative of existentialism and a leading figure among French intellectuals of the 20th century. Sartre wrote numerous works, including the drama „No Exit“ (French: „Huis clos“), which premiered in 1944. He once said that the play originated from his experiences in the Stalag camp, where he had been a prisoner of war. The constant togetherness there and the feeling of being constantly watched is said to have prompted him to process this „hell“ in a play.
Still relevant
But although the play was first performed 79 years ago, it still retains its relevance today. „The play is absolutely timeless,“ says Constantin. Similar dynamics between people could also arise in today’s society – „perhaps even intensified by the internet. You’re constantly seen and judged, you’re an open book.“ So we don’t seem all that dissimilar to the three characters in the play – apart from the terrible deeds that brought the protagonists to hell in the first place, of course.
The current performance of „No Exit“ is the brainchild of the TUD Schauspielstudio, a non-profit theater association and university group at TU Darmstadt. This time, the group of four performers Clara Brossmann, Constantin Sporleder, Josephine Molis and Nicolas Wiefelspütz directed the play, but many people also worked in the background to ensure that the play could be realized. The result was a convincing, interesting and humorous version of Sartre’s Closed Society, which brings French existentialism to wintry Darmstadt – not with a warming purgatory, but a performance that stimulates the mind and is really worthwhile.
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