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Frauen, die von Freiheit träumten – Ein Exkurs zu den Anfängen der ersten deutschen Frauenbewegung

von Sarah Grund (15.11.2023)

Stell dir vor, es ist das 19. Jahrhundert in Deutschland – und du bist eine Frau. Vormärz, Deutsche Revolution, die beginnende Industrialisierung und das Aufblühen der Wissenschaft, wie wir sie heute kennen: Es ist das Jahrhundert der Veränderungen und des Fortschritts. Aber du bist eine Frau, und deshalb sieht das 19. Jahrhundert für dich anders aus.

„Der Mann ist stark im Handeln, Mittheilen, Befruchten, das Weib im Dulden, Empfangen und Gebären.“
Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 6. Band (1865)

Per Gesetz bist du als Frau dein Leben lang an einen männlichen Vormund gebunden – erst ist es dein Vater, später wird es dein Ehemann sein. Rechtlich bist du mit einem Kind gleichgestellt. Der einzige Beruf, für den man dich umfänglich ausbilden wird, ist der der Ehefrau, der Hausfrau, der Mutter. Wenn du zur Unterschicht gehörst, wirst du sogar die Doppelbelastung von Haushalt und Erwerbsarbeit auf dich nehmen müssen. Für die Fabriken giltst du als billige Arbeitskraft und verdienst unter widrigen Arbeitsbedingungen etwa 65 Prozent von dem, was ein Mann für die gleiche Arbeit bekommt. Weil du eine Frau bist, wird man dir bis zum Ersten Weltkrieg die vollkommen freie Berufswahl verwehren.

§184. „Der Mann ist das Haupt der ehelichen Gesellschaft; und sein Entschluß giebt in gemeinschaftlichen Angelegenheiten den Ausschlag.“
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 1794, Zweyter Teil,  Abschnitte Zwey und Vier

Louise Otto-Peters, Illustration: Margo Sibel Koneberg

Louise Otto (später Louise Otto-Peters) war eine Frau, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts geboren wurde – und eine, die das Glück hatte, in einer wohlhabenden Familie aufzuwachsen. Sie wurde 1819 als jüngstes von sechs Kindern im sächsischen Meißen geboren. Im Kindesalter erhielt sie Privatunterricht in Naturwissenschaften, Malerei, Philosophie und Französisch. Darüber hinaus bildete sie sich Zeit ihres Lebens „autodidaktisch fort und betrieb private Studien“.

„Die Teilnahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht allein ein Recht, sie ist eine Pflicht der Frauen.“
Louise Otto unter dem Pseudonym “Otto Stern” (1843)

Früh setzte sich Louise Otto für die Emanzipierung der Frau ein. Schließlich war sie es, die die erste deutsche Frauenbewegung initiieren sollte. Es waren die politischen Ereignisse in Deutschland, darunter die zunehmende Armut der Bevölkerung, politische Zensur und Verhaftungen, die dazu führten, dass sie sich gesellschaftlich einmischte und begann, gesellschaftskritische Gedichte, journalistische Texte (diese zunächst unter dem männlichen Pseudonym Otto Stern) und sozialkritische Romane zu veröffentlichen. Auf diesem Wege wurde Louise Otto zu einer öffentlich bekannten Person.

„Wohl auf denn, meine Schwestern, vereinigt Euch mit mir, damit wir nicht zurückbleiben, wo Alle und Alles um uns und neben uns vorwärts drängt und kämpft.“
Louise Otto-Peters

Der Kampf um Gleichberechtigung
Ab 1849 gab sie eine Frauen-Zeitung heraus, die sich mit aktuellen Themen, die Frauen betrafen, befasste – seien es Frauen aus Deutschland, aus anderen Ländern oder aus der Geschichte. 1850 wurde Frauen in Sachsen die Herausgabe von Zeitungen jedoch verboten.  Dort trat ein auch als „Lex Otto“ bekanntes Gesetz in Kraft, „das speziell auf das Verbot der Frauen-Zeitung ausgerichtet war“, deren Herausgeberin Louise Otto-Peters war. Doch von den Steinen, die man(n) ihr in den Weg legte, ließ Louise Otto-Peters sich nicht aufhalten: 1865 gründete sie gemeinsam mit der Frauenrechtlerin Auguste Schmidt den „Leipziger Frauenbildungsverein“: „Wir verlangen nur, dass die Arena der Arbeit auch für uns und unsere Schwestern geöffnet werde“, formulierten sie die zentrale Forderung des Vereins. Die Frauen müssten sich „aus der bisherigen Unterordnung zu der ihnen gebührenden Gleichberechtigung neben dem Manne“ emporheben. Das Ziel der sich nun organisierenden Frauenbewegung war also die selbstbestimmte Arbeit, man forderte aber auch die allgemeine Gleichberechtigung der Geschlechter.

Noch im selben Jahr fand die erste deutsche Frauenkonferenz statt, auf der der Allgemeine Deutsche Frauenverein ins Leben gerufen wurde, deren Vorsitzende Louie Otto-Peters wurde. Als Bindeglied zwischen den Ortsvereinen – zeitweise waren es landesweit 20 Stück – gaben Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt die Vereinszeitschrift „Neue Bahnen“ heraus. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1985 widmete sich Louise Otto-Peters „neben der zeitaufwändigen Vereinstätigkeit und der Frauenbewegung der literarischen und journalistischen Arbeit.“

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Ausgehend von den Bemühungen Louise Otto-Peters und sämtlicher anderer Frauenrechtlerinnen, die sich ihr anschlossen, erhielten Frauen 1918 in Deutschland das Wahlrecht. Knapp 100 Jahre nach dem Beginn von Louise Otto-Peters‘ Engagement fand 1949 auch die Gleichberechtigung der Geschlechter Einzug in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In dieser Form benötigte das Grundgesetz jedoch eine Überarbeitung, da das Gleichberechtigungsgesetz einen Widerspruch zu anderen Teilen der Verfassung, wie dem gesetzlich verankerten Letztentscheidungsrecht des Mannes über eheliche Angelegenheiten, darstellte. Das in der Gesellschaft verankerte, patriarchalische Rollenverständnis von Mann und Frau konnte mit dem Gesetz zur Gleichberechtigung, das seit 1958 auch nicht mehr nur als Übergangslösung im Grundgesetz verankert ist, allein jedoch noch nicht überwunden werden.

In den darauffolgenden Jahren fanden noch weitere gesetzliche Änderungen, Streichungen oder Ergänzungen statt, um die tatsächliche Gleichberechtigung von Mann und Frau erwirken zu können. Dazu zählen unter anderem die „Verbesserung des Gesetzes zum Schutze der erwerbstätigen Mutter“ 1968 und die Reform des Ehe- und Familienrechts 1977, mit der das Vorschreiben der Rollenverteilung in der Ehe abgeschafft wurde. Erst 1980 – vor weniger als 50 Jahren also – wurden Arbeitgeber:innen per Gesetz zur „Gleichbehandlung von Männern und Frauen“ verpflichtet.

Und heute?
Heute sei laut Bundesregierung die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht. Nach wie vor jedoch sind Frauen in Deutschland „beruflich, wirtschaftlich und sozial in vielerlei Hinsicht benachteiligt“. Ein Beispiel: Frauen beziehen durchschnittlich ein um 49 Prozent niedrigeres Alterseinkommen als Männer – gesetzliche Rente, betriebliche und private Alterssicherung zusammengenommen.

Und auch wenn wir von dem, was wir als tatsächliche Gleichberechtigung empfinden, in Deutschland noch ein gutes Stück entfernt sind: Für den Weg, den wir bisher gegangen sind, legten Louise Otto und die erste deutsche Frauenbewegung den Grundstein. Ein Stück Geschichte, das wir viel zu selten beleuchten.

“ […] [D]enn die Geschichte aller Zeiten hat es gelehrt, und die heutige ganz besonders, daß diejenigen, welche selbst an ihre Rechte zu denken vergessen, auch vergessen wurden.”
Louise Otto, 1848


Quellen:
Joeres, Ruth-Ellen B.: Die Anfänge der deutschen Frauenbewegung: Louise Otto-Peters, 01.01.1983, S.11

Vahsen, Mechthilde: Louise Otto-Peters, in: bpb.de, 09.12.2021b, [online] https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/frauenbewegung/35309/louise-otto-peters/.

Koepcke, Cordula: Geschichte der deutschen Frauenbewegung: von den Anfängen bis 1945, 01.01.1981.

Ludwig, Johanna/Elvira Pradel/Susanne Schötz: Louise-Otto-Peters-Jahrbuch, Sax-Verlag Beucha, Bd. Jahrbuch 1/2004, 01.01.2004, S.95.

vgl. Stand der Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland: 2022, https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-008259.

English version (automated translation):

Women who dreamed of freedom – An excursus on the beginnings of the first German women’s movement

by Sarah Grund (15.11.2023)

Imagine it’s the 19th century in Germany – and you’re a woman. The Vormärz, the German Revolution, the beginning of industrialization and the blossoming of science as we know it today: It is the century of change and progress. But you are a woman, so the 19th century looks different to you.

„The man is strong in acting, sharing, fertilizing, the woman in tolerating, conceiving and giving birth.“
General German Real Encyclopaedia for the educated classes, 6th volume (1865)

By law, as a woman you are bound to a male guardian for the rest of your life – first it is your father, later it will be your husband. Legally, you are on an equal footing with a child. The only profession for which you will be fully trained is that of wife, housewife, mother. If you belong to the lower class, you will even have to take on the double burden of housework and gainful employment. For the factories, you are considered cheap labor and earn about 65 percent of what a man gets for the same work under adverse working conditions. Because you are a woman, you will be denied a completely free choice of profession until the First World War.

§184: „The man is the head of the conjugal society; and his decision is decisive in communal matters.“
General Land Law for the Prussian States 1794, Part Two, Sections Two and Four

Louise Otto-Peters, Illustration: Margo Koneberg

Louise Otto (later Louise Otto-Peters) was a woman born in 19th century Germany – and one who was lucky enough to grow up in a wealthy family. She was born in Meissen, Saxony, in 1819, the youngest of six children. As a child, she received private tuition in science, painting, philosophy and French. In addition, throughout her life she was „self-taught and pursued private studies“.

„The participation of women in the interests of the state is not only a right, it is a duty of women.“
Louise Otto under the pseudonym „Otto Stern“ (1843)

Louise Otto was an early advocate for the emancipation of women. After all, it was she who was to initiate the first German women’s movement. It was the political events in Germany, including the increasing poverty of the population, political censorship and arrests, that led to her becoming involved in society and beginning to publish socially critical poems, journalistic texts (initially under the male pseudonym Otto Stern) and socially critical novels. In this way, Louise Otto became a publicly known figure.

„Well then, my sisters, unite with me so that we are not left behind when everyone and everything around us and beside us is pushing forward and fighting.“
Louise Otto-Peters

The fight for equal rights
From 1849, she published a women’s newspaper that dealt with current issues affecting women – be it women from Germany, from other countries or from history. In 1850, however, women in Saxony were banned from publishing newspapers. A law also known as the „Lex Otto“ came into force there, „which was specifically aimed at banning the women’s newspaper“, whose editor was Louise Otto-Peters. But Louise Otto-Peters did not let the stones that were put in her way stop her: in 1865, together with the women’s rights activist Auguste Schmidt, she founded the „Leipzig Women’s Education Association“: „We only demand that the arena of work also be opened to us and our sisters,“ they formulated the central demand of the association. Women had to rise „from their previous subordination to the equal rights they deserved alongside men“. The aim of the women’s movement that was now organizing itself was therefore self-determined work, but they also demanded general equality of the sexes.

In the same year, the first German women’s conference was held, at which the General German Women’s Association was founded and Louie Otto-Peters became its chairwoman. Louise Otto-Peters and Auguste Schmidt published the association’s magazine „Neue Bahnen“ as a link between the local associations – at times there were 20 across the country. Until her death in 1985, Louise Otto-Peters „devoted herself to literary and journalistic work in addition to her time-consuming association activities and the women’s movement.“

„Men and women have equal rights“
Basic Law of the Federal Republic of Germany

Based on the efforts of Louise Otto-Peters and all the other women’s rights activists who joined her, women were given the right to vote in Germany in 1918. Almost 100 years after Louise Otto-Peters‘ commitment began, gender equality was also incorporated into the Basic Law of the Federal Republic of Germany in 1949. In this form, however, the Basic Law needed to be revised, as the Equal Rights Act contradicted other parts of the constitution, such as the legally enshrined right of men to make the final decision on marital matters. The patriarchal understanding of the roles of men and women anchored in society could not be overcome with the Equal Rights Act alone, which has been enshrined in the Basic Law since 1958 and is no longer just a temporary solution.

In the years that followed, further legal amendments, deletions and additions were made in order to achieve actual equality between men and women. These included the „Improvement of the Law for the Protection of Working Mothers“ in 1968 and the reform of marriage and family law in 1977, which abolished the prescribed division of roles in marriage. It was not until 1980 – less than 50 years ago – that employers were obliged by law to „treat men and women equally“.

And today?
According to the German government, gender equality has now been achieved by law. However, women in Germany are still „professionally, economically and socially disadvantaged in many respects“. One example: on average, women receive 49 percent less retirement income than men – statutory pension, company and private pension schemes combined.

And even if we are still a long way from what we perceive as real equality in Germany: Louise Otto and the first German women’s movement laid the foundations for the path we have taken so far. A piece of history that we illuminate far too rarely.

“ […] [T]he history of all times has taught us, and that of today in particular, that those who forget to think of their own rights have also been forgotten.“
Louise Otto, 1848

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