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Mehr machen, mehr trauen – mehr Aufzüge!

von Nina Schermal

“Man sollte einfach mal mehr machen.” Das ist das, was Sarah einem auf den Weg gibt. Der Himmel ist blau, zu hören ist nur das Betätigen der Maustaste, wenn die 25-Jährige etwas sagt. Einfach mal machen – erst Philosophie, dann Kunstgeschichte studieren. Schließlich zu Onlinejournalismus wechseln. In ihrer Freizeit ist Sarah oft im Reitstall, näht und backt gerne. Und Sarah sitzt auch seit ihrem 13. Lebensjahr in einem Rollstuhl, ist an ein Atemgerät gebunden. “Ich finde, die Menschen sollten generell offener zu allem sein und nicht so viel darüber nachdenken, etwas zu tun. Einfach machen, ohne die Befürchtung zu haben, ‚etwas Falsches’ zu sagen oder zu tun”, sagt sie.

Illustration: Karoline Hummel

Laut der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks haben 11 Prozent der Studierenden eine oder mehrere studienerschwerende Gesundheitsbeeinträchtigungen. Sarah ist eine von ihnen. Nachdem sie 2019 ihr Fachabitur nachgeholt hatte, stand für sie fest, studieren zu wollen. Dass die Gründauerin ausgerechnet am Mediencampus der Hochschule Darmstadt landet, habe sich “einfach so ergeben”. Ausschlaggebend für den Studiengang ist ihre Leidenschaft für das Geschichtenschreiben gewesen; vor allem für Thriller und True Crime kann sich Sarah sehr begeistern.

Sie fährt in einem schwarzen, elektrischen Rollstuhl auf dem Campus. Die braunen Haare fallen auf ihre Schultern. Die Studentin trägt eine Brille, ihr Mund steht leicht offen. Was die meisten ihrer Kommiliton:innen wegen der Maskenpflicht nicht wissen: Sarah spricht – nur eben, ohne einen Ton zu sagen. Durch Lippenlesen kommuniziert sie mit ihren Pflegerinnen, nickt ab und zu oder schüttelt den Kopf. “Manchmal hat sie sogar Buchstaben in die Luft gemalt”, erzählt ihre Pflegerin Alex. Mit Sarahs sechsköpfiger Familie kommuniziert die Onlinejournalismus-Studentin sogar nur durch das tonlose Sprechen. Bei unserem Gespräch sind die meiste Zeit der Wind oder die Unterhaltungen anderer Studierender zu hören. Und das regelmäßige Klicken eines Mauspads. Zuvor hatte Sarahs Pflegerin ihr einen Punkt auf die Brille geklebt. Er dient sozusagen als Mauszeiger. Über eine Webcam, die die Studentin an ihrem silbernen Laptop befestigt hat, visiert sie Buchstabe für Buchstabe an. Anschließend bestätigt sie mit einem Klick jedes Schriftzeichen einzeln. Funktioniert das mal nicht, so tippt sie mit ihren Fingerknöcheln. Sobald ein Tonsignal auf meinem Handy ertönt, kann ich Sarahs Antwort auf WhatsApp lesen.

Doch die Konsequenzen der Pandemie beeinflussen nicht nur den Präsenzbetrieb. Auch an die Onlinevorlesungen, die meistens über die Videoplattform Zoom gestreamt wurden, musste Sarah sich erstmal gewöhnen. Häufig musste die Gründauerin erklären, warum sie ohne Bild und Ton teilnahm. “An Zoom fand ich aber gut, dass wenn bei jemandem mal das Mikrofon nicht ging, sie auf dem selben ‘Level’ waren, wie ich”, erwähnt Sarah. Auch Gruppenarbeiten kann sie sowohl online, als auch in Präsenz gut bewältigen – die Kommunikation über das Schreiben funktioniert ihrer Meinung nach gut.

In der Zeit, in der die 25-Jährige ihre Antwort tippt, bemerke ich die ordentlich lackierten Fingernägel meiner Kommilitonin. Den grauen Lack habe ihr eine ihrer Pflegerinnen verpasst, erklärt Alex in der Zwischenzeit. Neben der Grundversorgung, wie der Körperpflege und der Ernährung, unterstützen die Pflegefachkräfte für außerklinische Beatmung Sarah in ihrem Alltag; gehen gemeinsam einkaufen, backen oder nähen zusammen. Auch die zwei großen, bunt gemusterten Taschen, die hinten an dem elektrischen Rollstuhl befestigt waren, sind selbstgenäht. In ihnen befinden sich Essen, Tücher und Ausrüstung für den Fall, dass der Schlauch kaputt geht, der Sarahs Lunge mit Luft versorgt.

Dass sie die meiste Zeit unterstützt wird, stört die Gründauerin nicht. Wieso sollte es auch? Als die Kamera auf dem Laptop verrutscht, weise ich Alex darauf hin. Sarah befestigt sie wieder alleine. “Solche Situationen passieren häufig. Besonders Menschen, die keinen Bezug zu Personen mit Einschränkungen haben, neigen dazu, ihnen Fähigkeiten abzusprechen und sie zu bevormunden.”, erklärt mir ihre Pflegerin. Der Grat zwischen Kümmern und Bevormunden sei ein ganz schmaler. Auch für die Berufserfahrene sei das nicht immer einfach. Dass viele Menschen zu Überfürsorge neigen und unabsichtlich übergriffig sind, liegt an mangelnder Inklusion. Oftmals scheuen wir uns davor, Fragen zu stellen oder gehen bestimmten Situationen aus dem Weg. Dann erzählt Sarah mir davon, dass sie gerne feiern geht. “Ausgegrenzt fühle ich mich nie in einer Bar”, schreibt sie. Durch die Begleitperson sei die Hemmschwelle meistens niedriger, die Berührungsängste durch den Alkohol geringer. Solche Berührungsängste machen sich auch im Alltag bemerkbar. Alex habe schon häufig mitbekommen, wie Fremde in Sarahs Umgebung über sie sprachen, als würde sie das nicht mitbekommen. “Keiner mag’s, wenn hinter einem Rücken gesprochen wird”, sagt Alex und zündet sich eine Zigarette an. “Auch, wenns aus Unwissenheit passiert.” Ob Unwissenheit oder nicht: Das ist eine Sache des Respekts.

Was Sarah mir beibringt: Einfach mal mehr machen. Mehr Inklusion, mehr Konfrontation, mehr trauen. Und vor allem: Mehr Möglichkeiten für Barrierefreiheit schaffen – und dann auch ausreichend beschildern! “Ich glaube, ich habe am ersten Tag bestimmt 15 Minuten lang nach dem Aufzug gesucht, weil ich ihn nicht gefunden habe”, berichtet Sarah von ihrem ersten Tag am Mediencampus. Auch nachdem sie die Studierenden danach gefragt hatte, konnte niemand helfen. Einige meinten sogar, es gäbe nicht mal einen. Vielleicht ist es Zeit für einen Wandel in Richtung Barrierefreiheit – in den Köpfen, aber auch im Alltag.

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