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„ZU HASSERFÜLLT, UM AUFZUGEBEN“Zwischen Existenzangst und dem Traum von der eigenen Tour

Von Nina Schermal (18.10.2023)

Es riecht nach Gras, Kaffee und Wut in der WG von Ilhan44. Er ist Rapper mit zwei Alben, knapp 16.700 monatlichen Spotify-Höreri:nnen, einem Auftritt beim splash!-Musikfestival 2023 und Migrationsgeschichte. Mit Ach_dasta! spricht er über Dinos, Schlafprobleme und Gewalt.

Ilhan setzt frischen Kaffee auf. Er macht einen Schwamm nass und wischt über den Tisch, grinst mich aus seinen braunen Augen an und lacht laut. „Ich bin Türke, ich muss putzen“, sagt der 28-Jährige in einem entschuldigenden Tonfall. Er trägt Schwarz: T- Shirt, Jogger und zottelige Locken, einen dichten Bart. Auf dem dunklen Holztisch: Zwei Tassen und ein Grinder neben der allseits bekannten deutschen Glasschüssel.

Illustration: Margo Sibel Koneberg

Ich spreche ihn auf seinen bekanntesten Track Al-Azif an. Eine Minute und 14 Sekunden dauert das Lied, in dem er über „blonde Teufel“ und den Mord an Oury Jalloh rappt. Der Asylbewerber aus Afrika wurde 2005 verbrannt in einer Gefängniszelle aufgefunden. Bis heute kämpfen Angehörige um eine „nachvollziehbare Aufklärung der Todesumstände“ und gingen zuletzt im Juli 2023 vor den Europäischen Gerichtshof.

Die einprägsamsten Zeilen aus Al-Azif:
„Wir werden niemals Teil davon sein, wenn sie das nicht wollen
Wir vergiften eure Kinder mit dem Drogen pushen
Weil wir grade gut genug sind, um die Klos zu putzen“

Ilhan erzählt, Al-Azif sei sein „Vorzeigesong“ und die „Gliederung“ seiner Musik. Er dreht sich eine Zigarette, schaut beim Erzählen verträumt aus dem Fenster. Die Sonne scheint auf die Holztür hinter ihm. Geboren im Berliner Bezirk Neukölln, zurück in die Türkei, dann wieder Neukölln. Von Hochhaus zu Hochhaus, ins Kinderheim, als er zwölf Jahre alt war und seine Mutter abgeschoben wurde, und dann für die Liebe nach Hessen.

Darmstadt, wo er seit sieben Monaten lebt, findet er süß, er mag, dass es kleiner ist als Berlin. Nach seinem Abitur hat er ein Techniksoziologiestudium begonnen, nach drei Semestern abgebrochen und war dann fast ein Jahrzehnt als Sozialarbeiter mit Jugendlichen beschäftigt. Schwerpunkt seiner Arbeit: Schreiben und Musik.

Geschichten statt Notizen

Begonnen hat er damit durch Zufall. Er schaut durch mich hindurch, als hätte er den Blick auf eine ferne Erinnerung gerichtet, die Augen glänzen im Sonnenlicht. Nach der Trennung seiner Eltern verlor Ilhans Familie, fortan bestehend aus zwei jüngeren Schwestern, und seiner Mutter und ihm, die Wohnung – und er damit seine geliebten Bücher. „Ich habe sehr viele Sachbücher gelesen, vor allem über den Weltraum und Dinosaurier“, erzählt er.

Er begann zu malen – aber die Lehrkräfte nahmen ihm seine Bilder ab. „Deshalb habe ich angefangen, Geschichten zu schreiben. Das sah dann immer so aus, als würde ich mir Notizen machen“, berichtet er mit einem Lächeln auf den Lippen. Er wirkt auf einmal sehr jung und weniger erschöpft. Fast ein bisschen stolz auf seine frühere Taktik.

Pluspunkte bei Allah

Als seine Mutter ihm damals erzählte, es sei eine Art islamische Tradition, Gedichte zu schreiben, fand Ilhan seine Liebe für Poesie. „Ich dachte mir, wie cool, ich kann einfach schreiben und dabei Pluspunkte bei Allah sammeln“, verrät er und lacht. Die Verbindung von Schreiben und Musik kam später. Nicht ganz unbedeutend waren für Ilhan hier Michael Jackson, Disstracks von Kool Savas und Eko Fresh und die damalige Rap-Legende Bushido. Er begann, CDs zu brennen und beim Schreiben Musik zu hören.

Irgendwann versuchte er, inspiriert durch Poetry Slam, seine Texte auf Instrumentals von Liedern zu schreiben, ohne auf den Gesang zu achten. „Das war ehrlich bisschen Kopffick!“, sagt er lachend, „es gab ja keine Instrumentals, deshalb musste ich die Lyrics während dem Schreiben ausblenden.“ Dass aus Instrumentals irgendwann Songs und aus Songs ganze Alben entstehen würden, hatte Ilhan nicht kommen sehen. Genau wie seinen Auftritt auf dem splash!-Festival – mit zwei Alben.

Demokratisch aufs splash!

Das splash! ist ein Hip-Hop-Festival, das jährlich 20.000 bis 25.000 Besucher:innen nach Gräfenhainichen, einen Ort in der Nähe von Magdeburg, lockt. Ilhan lacht, als er daran zurückdenkt. Ein Bekannter, der dort arbeitete, hatte ihn als Act vorgeschlagen. „Dann wurde meine Musik angehört und für mich gevotet“, berichtet Ilhan beinahe ungläubig, „ich wurde einfach demokratisch aufs splash! gewählt.“ Er strahlt, als er sich zurückerinnert an die kleine Strandbühne. Scheint kaum fassen zu können, was er diesen Sommer erlebt hat. Knapp 500 Zuschauer:innen sollen zeitweise vor seiner Bühne gestanden haben, sagt der Rapper gerührt.

Für Musik hat er heute trotzdem keinen Kopf mehr, sagt, es sei wenig Platz für Kreativität da, weil er mit dem Schreiben vor allem hohe Kosten assoziiere: Produktion, Musikvideo, Vermarktung. Ilhan plagen Existenzängste und ein kaputter Schlafrhythmus, weil er Nachtschichten an der Tankstelle übernimmt, um seine Miete zahlen zu können.

In Rauch verarbeitet er, was er erlebt:
„Ich kenn echt wenig Leute ohne Existenzangst
Meine Jugend hat die Schnauze voll, enough is enough, ey […]
Wir fühlen uns hintergangen, jeder Gedanke macht krank“

Als ich ihn auf die Lyrics anspreche, nickt er. „Wir werden auch hintergangen“, sagt er und erzählt vom Aufwachsen in Neukölln, wo seit 15 bis 20 Jahren „für dieselben Sachen“ demonstriert werde. Ilhan spielt an einem roten Feuerzeug herum, lehnt sich auf dem Stuhl zurück. „Wir sagen jetzt Migrant statt Kanake“, er schaut aus dem Fenster. „Es ändern sich nur Worte, aber nicht Weltbilder, da fühlt man sich doch verarscht.“

Der Blick zurück

Er spricht über seine kurze, aber prägende Kindheit. Von Polizeiautos, Gewalt und der ständigen Geldnot. Über das Hin und Her: Ältere beeindrucken und Jüngere unterdrücken. Klauen, Schlägereien und diese unglaubliche Wut als Kind und Jugendlicher. Ilhan zündet sich noch eine Zigarette an.

„Ich habe viel gekämpft mit Umständen, mental, aber auch körperlich“, gibt er zu, und plötzlich sieht er nicht mehr so sorglos aus, sondern sehr müde. Er wirkt wirklich erschöpft. Nach der Abschiebung seiner Mutter musste Ilhan der Erwachsene sein. Heute ist er fast ein bisschen überfordert damit, sich um niemanden mehr kümmern zu müssen, sagt er.

„Ich wäre jetzt gerne an einem stabileren Ort“, gesteht er, „ich sehne mich einfach nach Ruhe.“ Und ich verstehe ihn. Wir schweigen. Ilhan drückt seine Zigarette aus. „Aber ich bin zu hasserfüllt, um aufzugeben“, fügt er hinzu. Heute ist seine Wut nicht mehr explosiv und destruktiv. Er will sie weiter nutzen, um wieder zu schreiben.

Der Blick nach vorn

Und für die Zukunft? „Vielleicht kann ich in fünf Jahren eine Tour machen und habe genug Musik, um eine oder eineinhalb Stunden auf der Bühne zu füllen“, sagt Ilhan und grinst wieder. „Von der Musik Miete zahlen und leben können, vielleicht ein, zwei Kinder – davon träume ich.“

Hier findet ihr mehr von Ilhan44:


English version (automated translation):

„TOO FULL OF HATE TO GIVE UP“ – Between existential fear and the dream of an own tour

by Nina Schermal (18.10.2023)

It smells like weed, coffee and anger in Ilhan44’s shared flat. He is a rapper with two albums, almost 16,700 monthly Spotify listeners, an appearance at the splash! music festival 2023 and a migratory history. He talks to Ach_dasta! about dinosaurs, sleep problems and violence.

Ilhan is making fresh coffee. He wets a sponge and wipes across the table, grins at me from his brown eyes and laughs loudly. „I’m Turkish, I have to clean,“ the 28-year-old says in an apologetic tone. He wears black: T- shirt, joggers and shaggy curls, a thick beard. On the dark wooden table: two cups and a grinder next to the familiar German glass bowl.

I talk to him about his best-known track Al-Azif. The song lasts one minute and 14 seconds, in which he raps about „blond devils“ and the murder of Oury Jalloh. The asylum seeker from Africa was found burned to death in a prison cell in 2005. To this day, relatives are fighting for a „comprehensible clarification of the circumstances of death“ and most recently went before the European Court of Justice in July 2023.

The most memorable lines from Al-Azif:
„We will never be part of it if they don’t want us to be
We’ll poison your children with pushing drugs
Because we’re just good enough to clean the toilets“

Ilhan says Al-Azif is his „showcase song“ and the „outline“ of his music. He rolls a cigarette, looks dreamily out the window as he talks. The sun shines on the wooden door behind him. Born in the Berlin district of Neukölln, back to Turkey, then Neukölln again. From high-rise to high-rise, to a children’s home when he was twelve and his mother was deported, and then to Hesse for love.

He thinks Darmstadt, where he has been living for seven months, is sweet; he likes that it is smaller than Berlin. After graduating from high school, he began studying sociology of technology, dropped out after three semesters, and then spent almost a decade working with young people as a social worker. The focus of his work: writing and music.

Stories instead of notes

He started it by coincidence. He looks through me as if he had his gaze fixed on a distant memory, his eyes gleaming in the sunlight. After his parents separated, Ilhan’s family, henceforth consisting of two younger sisters, and his mother and him, lost their home – and he lost his beloved books with it. „I read a lot of nonfiction, especially about space and dinosaurs,“ he says.

He began to paint – but the teachers took away his paintings. „So I started writing stories. It always looked like I was taking notes,“ he reports with a smile on his lips. He suddenly seems very young and less exhausted. Almost a little proud of his former tactic.

Earning bonus points for Allah

Back then, when his mother told him it was a kind of Islamic tradition to write poetry, Ilhan found his love for poetry. „I thought to myself, how cool, I can just write and earn plus points with Allah,“ he reveals, laughing. The connection between writing and music came later. Not entirely insignificant for Ilhan here were Michael Jackson, disc tracks by Kool Savas and Eko Fresh, and the rap legend of the time, Bushido. He started burning CDs and listening to music while writing.

At one point, inspired by poetry slams, he tried writing his lyrics on instrumentals of songs without paying attention to the vocals. „That was honestly a bit of a head-fuck!“ he says with a laugh, „there were no instrumentals, so I had to block out the lyrics while writing.“ Ilhan didn’t see coming that instrumentals would eventually turn into songs and songs into entire albums. Just like his appearance at the splash! festival – with two albums.

Democratically to the splash!

The splash! is a hip-hop festival that attracts 20,000 to 25,000 visitors a year to Gräfenhainichen, a town near Magdeburg. Ilhan laughs when he thinks back on it. An acquaintance who worked there had suggested him as an act. „Then they listened to my music and voted for me,“ Ilhan reports almost incredulously, „I was just democratically elected to splash!“ He beams as he recalls the small beach stage. Seems he can hardly believe what he has experienced this summer. Almost 500 spectators are said to have stood in front of his stage at times, says the rapper, moved.

Nevertheless, he has no head for music today, says there is little room for creativity, because he associates high costs with writing: production, music video, marketing. Ilhan is plagued by existential fears and a broken sleep rhythm because he works night shifts at the gas station to pay his rent.

He processes what he experiences in smoke:
„I know very few people without existential fear
My youth is fed up, enough is enough, ey […]
We feel betrayed, every thought makes us sick“

When I ask him about the lyrics, he nods. „We are also deceived,“ he says, and talks about growing up in Neukölln, where people have been demonstrating „for the same things“ for 15 to 20 years. Ilhan plays around with a red lighter, leaning back in his chair. „We say migrant now instead of Kanake,“ he looks out the window. „It’s only words that change, but not worldviews, so you feel like you’ve been had.“

Looking back

He talks about his short but formative childhood. About police cars, violence and the constant need for money. About the back and forth: impressing older and oppressing younger. Stealing, fights and this unbelievable rage as a child and teenager. Ilhan lights another cigarette.

„I’ve struggled a lot with circumstances, mentally, but also physically,“ he admits, and suddenly he no longer looks so carefree, but very tired. He looks really exhausted. After his mother was deported, Ilhan had to be the adult. Today, he’s almost a little overwhelmed by not having to take care of anyone anymore, he says.

„I would like to be in a more stable place right now,“ he confesses, „I just long for peace.“ And I understand him. We fall silent. Ilhan stubs out his cigarette. „But I’m too hateful to give up,“ he adds. Today, his anger is no longer explosive and destructive. He wants to keep using it to write again.

Looking Forward

And for the future? „Maybe in five years I can do a tour and have enough music to fill an hour or an hour and a half on stage,“ Ilhan says, grinning again. „Being able to pay rent and live off the music, maybe one or two kids – that’s what I dream of.“


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