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Recht oder Unrecht: Die Debatte um das Containern

Von Maike Dorn

Gesellschaft, Rechtsprechung und Politik streiten darüber, ob Lebensmittel aus dem Müll geholt werden dürfen oder nicht. Die einen nennen es Rettung, die anderen eine Straftat. Dabei sind sich im Grunde alle einig darüber, dass Lebensmittelverschwendung vermieden und bekämpft werden muss.

Bild: Maike Dorn

Marco hat sich inzwischen angewöhnt, jede Tonne, an der er vorbeikommt, zu öffnen und hineinzuschauen. Unterwegs in der Heidelberger Innenstadt kommt er eines Abends an einem Süßwarengeschäft vorbei. Schon kurz nach dem Öffnen der Tonne sieht er: Sie ist komplett voll mit „unfassbar viel, krassem, teurem Zeug“.

Er und seine Begleiterin packen sich die Arme voll, denn sie sind nicht fürs Containern ausgestattet und haben keine Taschen dabei. Sie laufen um die nächste Ecke, schauen sich ihre Beute genauer an und staunen darüber, was sie da alles gefunden haben: Pralinen, Schokolade und andere Süßigkeiten in Hülle und Fülle. Später kommt Marco mit Taschen bewaffnet zurück. In seiner WG breitet er alles auf den Küchentisch aus und macht ein Foto für Instagram. Containern hat viele Facetten und das Durchstöbern von Supermarkt-Abfällen kann sich zur wahren Schatzsuche entwickeln. 

#rettet das essen

Marco geht drei- bis viermal die Woche containern, während der letzten pandemie-bedingten Lockdowns sogar täglich. Mit der Menge an guten Lebensmitteln, die er aus Tonnen rettet, kann er problemlos seine sechsköpfige WG ernähren. In diesem Ausmaß hatte er das nie gewollt, doch sein Verantwortungsgefühl meldet sich bei dem Gedanken an die vielen Lebensmittel in den Tonnen. Die hundert Brötchen und die vielen Brote aus der Bäckerei werden nicht gerettet, wenn er es nicht tut. Also containert er so oft er kann. Für das Retten von Lebensmitteln nimmt er böse Blicke, unangenehme Situationen mit Nachbar*innen und Marktmitarbeiter*innen und die Begehung von Straftaten in Kauf. Containern ist bei der jungen Generation im linken Milieu im Kontext der Klimagerechtigkeit sehr verbreitet. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es ist ein Teil des Kampfes gegen Lebensmittelverschwendung. Dieser Begriff beschreibt den Verlust von Lebensmitteln entlang der Wertschöpfungskette, also von der Ernte über den Verarbeitungsprozess zu den Groß- und Einzelhändlern und letztlich zu den Verbrauchern. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2019 landen im deutschen Groß- und Einzelhandel eine halbe Million Tonnen Lebensmittel in der Mülltonne. 

#zu gut für die tonne

Die Gründe für das Wegwerfen von noch genießbaren Lebensmitteln im Handel ist zum einen das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD), das in §7 der Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung beschrieben wird als ein Datum, bis zu dem ein Lebensmittel seine spezifischen Eigenschaften behält. Anders gesagt ist es möglich, dass sich ein Lebensmittel nach Ablauf des MHD in Qualität und Geschmack verändert. Das MHD ist deshalb keinesfalls ein Verfallsdatum oder gar ein Wegwerfdatum. Im Handel bestehen jedoch rechtliche Stolpersteine beim Verkauf von „abgelaufenen“ Lebensmitteln. Es gibt ein Verbot für die Vermarktung „unsicherer“ Lebensmittel, das zwar den Verkauf von abgelaufenen Lebensmitteln nicht direkt verbietet, jedoch eine sorgfältige Überprüfung vor dem Verkauf notwendig macht. Um sich diesen Arbeitsaufwand, das rechtliche Risiko und Geld aufgrund steuerlicher Belastungen beim Spenden von Lebensmitteln zu sparen, landen genießbare gute Lebensmittel bei vielen Supermärkte dann doch eher in der Tonne.

Ein weiterer Grund dafür, dass Lebensmittel nicht mehr gut genug für unsere Supermarktregale sind, ist Unvollkommenheit. Obst und Gemüse mit ungewöhnlicher Form, Dellen oder Flecken, genauso wie andere Lebensmittel mit eingedrückter Verpackung, bleiben am Ende des Tages übrig. Allerdings sind zweifellos auch „hässliche“ Lebensmittel zu gut für die Tonne. Essbar sind sie allemal, sie entsprechen nur nicht den Modelmaßen, die wir gewohnt sind. Schuld daran sind wir Konsument*innen und das Marketing. Besser gesagt, wir Konsument*innen als Resultat des Marketings. Es muss immer alles frisch sein – und es muss immer alles da sein. Die Erwartungshaltung der Gesellschaft an Aussehen, Qualität und Verfügbarkeit der Lebensmittel ist sehr hoch. Das Ergebnis sieht jeder Mensch, der den Deckel einer Supermarkt-Tonne anhebt, gefüllt mit Lebensmitteln vom Vortag, die mit der frischen Lieferung am nächsten Morgen überflüssig werden. Die Schönheit der Lebensmittel spielt beim Containern definitiv keine Rolle mehr und das Durchstöbern von Mülltonnen erfordert ein gewisses Maß an Abhärtung. Doch es geht darum, die Lebensmittel wertzuschätzen, die nicht makellos, aber essbar sind. 

#containern ist kein verbrechen

Es ist Sonntag und Marco besucht einen bekannten Spot. Es ist hell und mitten am Tag. Das ist nicht ungewöhnlich, denn Marco geht häufig tagsüber containern und integriert das Retten von Lebensmitteln in seinen Alltag. In einem großen, öffentlich zugänglichen Hinterhof stehen die Container einer Supermarkt-Kette. Manche sind verschlossen oder befinden sich in einem Käfig. Als er sie ansteuert, spürt er einen gewissen Nervenkitzel. Heute hat er keine Lust, erwischt zu werden. Allerdings ist seine Stimmung weniger ängstlich als trotzig. Er überlegt sogar, wie er an die verschlossenen Container herankommen könnte. Vielleicht ist es möglich, den Deckel ein wenig anzuheben und durch den Spalt zu greifen. Vielleicht lässt sich der Käfig mit einer Karte öffnen, das hat bisher häufig funktioniert. Der Aufwand kommt ihm absurd vor und er denkt sich: Muss ich das jetzt wirklich tun, um Essen zu retten? Die Antwort lautet ja, denn wie so häufig geben die Container einiges her. Gerade als er gehen will, kommt eine Mitarbeiterin und entdeckt ihn. Eine Mitarbeiterin am Sonntag, wie skurril – denkt er sich, bevor sie ihn anblafft: „Lassen Sie das.“ Sie mustert ihn mit einem genervten Blick. Als sie bemerkt, dass ihr Gegenüber ein junger Mensch ist, wechselt sie die Spur. „Wenn Du Hunger hast oder etwas brauchst, komm gerne zu mir, aber das geht so nicht.“ Sie schließt den Container und Marco darf mit seinen containerten Lebensmitteln von dannen ziehen. 

#containern ist keine straftat

Das war’s, die typische Situation, mehr passiert nicht. Marco war schon gut tausendmal containern. Ungefähr zehnmal wurde er erwischt, vorwiegend von Mitarbeitern, die selbst mit der Situation überfordert wirkten. In den meisten Fällen wurde er weggeschickt und durfte seine Beute mitnehmen. Ärger mit der Polizei hatte er noch nie, diese hatte höchstens im Vorbeifahren einen bösen Blick für ihn übrig. Dabei ist Containern nach dem Gesetz strafbar. Jeder, der das Gelände eines Supermarktes betritt und sich Zugang zu den Mülltonnen verschafft, macht sich des Hausfriedensbruchs schuldig. Zudem kann das „Retten“ von Lebensmitteln aus dem Müll eine Anzeige wegen Diebstahls zufolge haben, obwohl juristisch nicht eindeutig eingeordnet werden kann, ob Müll nun fremdes Eigentum ist oder zu den sogenannten „herrenlosen Sachen“ gehört. Eigentum kann gestohlen werden, eine herrenlose Sache nicht. Lebensmittel, die in Supermarkt-Mülltonnen befördert werden, sind wirtschaftlich wertlos. Das könnte ihren Status als Eigentum des Supermarktes auflösen. Wird der Müll hingegen durch Schlösser, Käfige und Zäune geschützt, spricht das für die Einordnung des Mülls als Eigentum des Marktes. Die Diskussion darüber, ob Müll nun Eigentum ist oder nicht, scheint etwas absurd. Allerdings kann die Interpretation eines solchen Details darüber entscheiden, wer Straftäter und wer Wohltäter ist. 

#containern legalisieren

Die Polizei drückt beim Thema Containern häufig beide Augen zu, denn Containern ist eine Straftat mit geringem Unrechtsgehalt. Sogar unser Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hält Strafen für Containern für absurd. Ärger mit der Polizei und vor Gericht muss schon richtig provoziert werden, denn mehr Arbeitsaufwand als die Erteilung einer Verwarnung investiert die Justiz selten in die lebensmittelrettenden Straftäter*innen. Allerdings ist genau das eine Strategie, um die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit auf das Problem der Lebensmittelverschwendung zu lenken. Pater Jörg Alt aus Nürnberg legte es nach einer Container-Aktion zusammen mit Klimaaktivist*innen auf eine Anzeige an, um ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung zu setzen. Aktivisten vom Aufstand der letzten Generation riefen nach dem Containern bei der Polizei an, um sich selbst anzuzeigen. Zwei Studentinnen aus Bayern versuchten sich an einer Verfassungsbeschwerde gegen ihre Verurteilung wegen Diebstahls, nachdem sie beim Containern erwischt wurden. Sie scheiterten vor dem Bundesverfassungsgericht, doch sie zwangen das Gericht dazu, zu der unklaren Gesetzeslage Stellung zu beziehen. Aufgrund bisher fehlender Rechtsprechung war das überfällig. Doch das Ergebnis ist eine Enttäuschung für die Anti-Foodwaste-Community. Containern bleibt laut Rechtsprechung strafbar, solange der Gesetzgeber sich nicht dafür entscheidet, Containern zu entkriminalisieren.

#foodwaste revolution

Containern ist eine Methode für alle, die nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sein wollen. Eine weitere Möglichkeit zur Rettung von Lebensmitteln ist Food Sharing. Das Teilen von Essen kann dabei ganz verschiedene Formen annehmen. Der Gedanke dahinter ist immer der, alle Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden, zu spenden. Containern und Food Sharing sind jedoch keine Lösung. Eine solche müsste viel früher in der Wertschöpfungskette ansetzen, beispielsweise bei der Produktion von Lebensmitteln. Auf politischer Ebene gibt es eine nationale Strategie zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung, die 2019 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft vorgelegt wurde. Als langfristiges Ziel soll bis 2030 die Lebensmittelverschwendung in Deutschland auf Einzelhandels-Ebene halbiert werden. Wer sich aber kurzfristige Änderungen wünscht, muss wohl weiter containern und darauf hoffen, nicht angezeigt zu werden. 

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Quellen:

2 Gedanken zu „Recht oder Unrecht: Die Debatte um das Containern“

  1. Ich finde es ein bisschen schwierig, dass in einen der Überschriften gesagt wird, dass Container keine Straftat ist – denn das ist sie. Eventuell könnte man das im Text ändern. Mir ist bewusst, dass danach der rechtliche Sachverhalt erklärt wird. Finde die Überschrift dennoch irreführend.

    1. Hallo Sam, vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Wir nehmen uns deine Kritik als Redaktion zu Herzen, möchten dich aber an dieser Stelle auf die Erklärung im Text verweisen: „Dabei ist Containern nach dem Gesetz strafbar. Jeder, der das Gelände eines Supermarktes betritt und sich Zugang zu den Mülltonnen verschafft, macht sich des Hausfriedensbruchs schuldig.“

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